Damit Kindern kein Flügel bricht - Kindliche Verhaltensauffälligkeiten verstehen und ein gutes Familienklima fördern
Blicken ziellos herumstreifen. War da was, war da nicht jemand? Ein Schatten. In ihrer Fantasie huscht dieses Wesen manchmal noch vorbei. Doch zu flüchtig, zu vergessen, um es orten und halten zu können.
Die familiäre Passivität kontrastiert eigenartig mit der familiären Aktivität. Das hauseigene Taxi (meistens die Mutter) ist ständig unterwegs zum Training der Söhne, zum Wettkampf der Töchter, zu Elternabenden - alles im Namen der Schul- und Lebensangelegenheiten der Kinder. In Sachen Paar, was durchaus eine Lebensangelegenheit sein könnte, frisst das Taxi kaum Benzin. Rainer Werner Fassbinders Filmtitel »Angst essen Seele auf« könnte hier abgewandelt werden in »Familie essen Paar auf«. Wo sind die Frauen, die ihre Männer einmal von der Arbeit abholen, ganz überraschend, um sie zu einem gemeinsamen Abendessen zu zweit
einzuladen? Wo sind die Männer, die eine liebe Verwandte oder Bekannte ins Haus holen zum Babysitten und ihre Frau für einen langen und wunderbaren Abend entführen? Das sind keine verrückten oder romantischen Paar-Ideen. Die waren früher schon einmal da. Welche Paare sind schon zusammengekommen, weil sie sich nichts haben einfallen lassen, sich nicht umeinander bemüht haben?
Der Familienkörper hat ständig Hunger. Immer braucht einer was, ein Heft, eine Unterschrift, das Ohr der Mutter zum Abhören der Vokabeln, die geschickte Hand des Vaters beim Aufbauen des Bücherregals. Der Vater braucht dringend noch eine Wäsche, möchte »das Hemd, du weißt schon, welches, morgen tragen«, die Mutter wartet seit 14 Tagen auf ein paar Stunden Zeit, damit sie zu IKEA fahren kann. Der Dialog könnte dann folgendermaßen ablaufen:
»Kannst du mal am Samstag auf die Kinder aufpassen, seit zwei Wochen liegt der Zettel rum, was ich alles noch brauche.«
»Aber wir waren doch erst bei IKEA... warum haben wir dann den Rest nicht gleich mitgenommen, mit dem Bücherregal?«
»Ich kann ja nicht immer an alles denken.«
»Jetzt erwartest du noch, dass ich weiß, ob wir einen Wäschekorb oder das andere Zeugs brauchen! Den gibt’s doch auch hier in der Stadt.«
»Aber viel teurer und dort weiß ich genau, wo ich ihn finde.«
»Also, du bist nicht organisiert.«
»Und du hast keine Ahnung, worum ich mich den ganzen Tag kümmern muss, und das alles neben meiner Arbeit...«
»Warum nimmst du die Kinder nicht einfach mit?«
»Ich will in aller Ruhe die paar Sachen zusammensuchen und nicht mit unseren Kindern, die dann alles Mögliche sehen und wollen.«
»Gut, dann fahren wir halt alle zusammen, wenn es dir allein zu anstrengend ist, dann komm ich mit.«
»Ich wollte ja gar nicht, dass du...«
»Bist du nun zufrieden?!«
»...«
Der Paarkörper ist auch hungrig. Es scheint wie ein ungeschriebenes Gesetz zu sein, dass er unwichtig zu sein hat, dass »andere Bedürfnisse einfach vorgehen« (so ein Familienvater). Einfach? Überhaupt nicht einfach, doch tief in den Elternköpfen eingeschrieben. Sind diese Gravuren, die so heftig tief eingetragen sind, Überreste eines christlichen Moralkodex, der erwartet, dass dem Familienglück anstandshalber ziemlich viel und zuletzt auch das eigene Glück geopfert werden muss? Dabei wissen wir alle oder ahnen es zumindest, dass die individuelle Zufriedenheit ein Maßstab ist und bleibt für die Familienharmonie.
Viele Eltern glauben, sie könnten die eigene Zufriedenheit aufschieben, »bis die Kinder aus dem Haus sind«. Elterliche Durchhalteparolen sind anständig, doch bei Weitem nicht so wirksam, wie Eltern glauben. »Wenn meine Kinder mal groß sind, komme ich dran.« Diese tapfere Parole trügt. Erstens kann man die mangelnde Erfahrung im Erkennen und Umsetzen eigener Wünsche nicht einfach nach- und aufholen, weil eine ernsthafte Erkrankung manchmal schon vorher kommt. Und zweitens haben die Kinder dann manchmal schon längst beschlossen, bei solchen Elternvorbildern auf eigene Kinder zu verzichten. Die 20-jährige Julia sagt klipp und klar: »Warum sollte ich Kinder wollen? Ich bin verwöhnt, stimmt, das meiste hat sich um mich gedreht zu Hause. Glauben Sie echt, ich bin so blöd, um das alles aufzugeben? Und genau das heißt Kinderkriegen... oder etwa nicht?«
Eigentlich sollte Kinderkriegen mehr bedeuten als »alles aufgeben«. Jugendliche übertreiben gern, dramatisieren
nicht weniger gern, doch in ihrer Übertreibung und Dramatisierung ragt bei genauem Hinsehen auch die messerscharfe Pfeilspitze, die nüchterne Realität, durch.
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