Dan
ahnungslosen Sohn damit zu konfrontieren.
Dans Miene verdunkelte sich, doch er sagte nichts.
»Also, bitte geh jetzt.« Sie musste sich schwer anstrengen, damit ihre Stimme möglichst locker klang. »Der Abend ist vorbei.«
Ganz langsam und ohne den Blick von ihr zu nehmen, stand er auf. Dann legte er seinen Daumen auf ihr Kinn und rieb es, und die Geste rührte etwas tief in ihr.
»Okay,
Lena
«, sagte er leise. »Wir reden … ein andermal.« Er senkte seinen Kopf und küsste sie so sanft, dass sie es kaum spürte. »Gute Nacht.«
Während er hinausging, rührte sie sich nicht vom Fleck. Sie hörte seine Schritte auf dem Fliesenboden, hörte, wie die Tür sich öffnete und wieder schloss. Erst dann folgte sie ihm und schob den Riegel vor.
Sein Wagen sprang mit einem lauten Grollen an und verschwand in die Nacht. Sie ließ den Kopf gegen die Tür sinken und schloss die Augen.
Die erste Träne, die ihr über die Wange rann, überraschte sie. Sie weinte sonst nie. Seit Smittys Tod hatte sie keine Tränen mehr vergossen. Und davor hatte sie zuletzt geweint, als sie damals ganz tief im Dreck gesteckt hatte.
Sie rieb sich fest über das Gesicht, aber das half nicht gegen den dumpfen Schmerz in ihrem Herzen.
5
Alonso Jimenez hielt sich geduckt. Seine rechte Hand lag auf der Pistole in seiner Hosentasche, die linke am genieteten Griff seines Dolches. Wer nachts in den Slums von Las Marías, Venezuela, unterwegs war, ging nicht unbewaffnet.
Schon gar nicht El Viejo.
Der Truppe, die ihn normalerweise zu seinem Schutz umgab, konnte er bei dieser Reise nicht trauen. Er konnte niemandem trauen. Drei Mal war er in den letzten sechs Monaten hier gewesen; mehrmals war er dabei in Schwierigkeiten geraten, wenn auch nicht ernsthaft. Bislang hatte er viel Glück gehabt.
In Las Marías war so wenig Verkehr, dass er sofort stehenblieb, als er einen Motor hörte, und in einen dunklen Winkel schlüpfte, um den Wagen vorbeituckern zu lassen. Kaum eine Querstraße von seinem Ziel entfernt, presste er sich gegen die verwitterten Holzbretter eines Hauses, damit man ihn von der Straße aus nicht sehen konnte.
Ein paar Sekunden verstrichen, dann verlangsamte das Auto sein Tempo.
Viejo fluchte leise. In seinem Alter ließ man sich nicht mehr auf Straßenkämpfe ein. Aber dann heulte der Motor auf, und die alte Karre nahm ihren Weg wieder auf. Alonso ging weiter.
Hinter der nächsten Ecke trat er in eine Gasse voll mit Müll; Ratten huschten davon, als seine Schritte ertönten. Je näher er der Seitentür des Lagerhauses kam, umso finsterer wurde es um ihn. Er blieb stehen, um zu horchen, ob ihm jemand gefolgt war, vielleicht der Wagen von vorhin.
Doch da war nichts zu hören. Nur sein Atem. Und sein Herzschlag.
Sein Atem ging schnell, doch sein Herz schlug mit jedem Tag langsamer. Der Krebs, der seinen Körper zerfraß, forderte allmählich seinen Tribut, auch wenn er das nach Kräften zu ignorieren versuchte. Genau wie seiner geliebten Frau Caridad wurde ihm die Zeit knapp. Doch eine Aufgabe blieb ihm noch zu vollenden, die wichtigste von allen. Wenn sie vollendet war, dann wäre dem Sieger die Beute sicher. Genauer gesagt, sie wäre für den Jungen gesichert.
Er steckte den Dolch weg, um den Schlüssel in das Vorhängeschloss an der Eisentür zu stecken. Lautlos öffnete er den Mechanismus und stieß die Tür einen Spalt weit auf, um sich hindurchzuschieben.
Im dunklen, modrigen Innern blieb er erst einmal stehen, um seine Augen an das schwache Licht zu gewöhnen, und schloss die Tür hinter sich. Sobald er Schatten unterscheiden konnte, rollte er ein Fass vor den Eingang; falls jemand versuchen sollte, hereinzukommen, müsste er es über den Boden schieben und würde sich so verraten. Innen war kein Schloss; das hätte nur verraten, dass es in diesem »verlassenen« Lagerhaus etwas extrem Wertvolles zu holen gab.
Eine Ratte raschelte in den Dachsparren, aber sonst war nichts zu hören.
Alonso tastete sich nach links, seine Hände fuhren über leere Holzregale, die vor sich hin moderten. Fünf Schritte geradeaus, dann vier nach rechts, und er erreichte die Kisten. Als er die erste Kiste ertastete, strich er über das gesplitterte Holz, bis er die Öffnung fand. Er griff nach dem Brecheisen, das er beim letzten Besuch auf einem Regal deponiert hatte. Genau in dem Moment, als sich seine Finger um die Stange schlossen, tönte das laute Kratzen von Metall auf Beton durch die Halle. Die Tür wurde so schnell aufgestoßen,
Weitere Kostenlose Bücher