Dance of Shadows
während ihre Lehrerin eine Aufstellung von mythologischen Gestalten an die Tafel schrieb.
Vanessa holte tief Luft und wollte den anderen gerade von ihrer Begegnung mit Zep berichten, als TJ durch die Tür schoss und sich auf den freien Platz neben ihnen fallen ließ.
»Habt ihr’s schon gesehen?«, fragte sie.
Steffie und Blaine unterbrachen ihr Streitgespräch und wandten sich ihr zu. »Was sollen wir gesehen haben?«, fragte Steffie.
»Die Nachricht von Elly.«
»Was, sie hat sich wirklich gemeldet?«, sagte Vanessa.
»Wo denn?«, fiel Blaine ihr ins Wort.
TJ zog ihr Handy heraus und zeigte ihnen die E-Mail , die an sie alle gerichtet war.
Hallo ihr Lieben,
tut mir leid, dass ich mich jetzt erst melde. Ich war fix und fertig und hatte Heimweh, und ich wusste, dass es leichter sein würde, zu gehen, ohne mich zu verabschieden. Ich versuche jetzt ein normales Leben zu führen, und das bedeutet, dass ich die New Yorker Ballettakademie und das Tanzen hinter mir lasse. Ich möchte das alles vergessen. Bitte meldet Euch nicht bei mir, damit ich nicht an alles erinnert werde, was ich aufgegeben habe. Ich wäre Euch wirklich dankbar dafür. Viele Grüße,
Elly
Keiner sagte etwas, als sie diese Nachricht immer und immer wieder lasen. Sie war rätselhaft: Auf der einen Seite klang sie nach Elly, aber andererseits überhaupt nicht.
»Sie muss echt ausgeflippt sein«, sagte Blaine, und seine Stimme klang ungewohnt düster. »Ich weiß, dass sie total durcheinander war, als sie den Anschiss von Josef bekommen hatte, aber ich hab nicht begriffen, dass es so dermaßen schlimm um sie stand.«
»Ich kapier’s einfach nicht«, sagte TJ und lehnte sich über den Tisch. »Warum hat sie uns nichts davon gesagt? Wir hätten ihr doch helfen können!«
»Vielleicht war es nicht das Richtige für sie«, sagte Steffie nachdenklich. »Josef hat doch gesagt, dass jedes Jahr einige aufhören.«
»Aber sie war
gut
«, sagte Vanessa und dachte an Margaret. »Sie wollte doch unbedingt Tänzerin werden.«
»Das wollen viele Leute«, sagte Steffie. »Und trotzdem sind wir diejenigen, die noch hier sind.« Was Steffie sagte, ergab durchaus Sinn, aber Vanessa hatte das Gefühl, dass irgendetwas mit Ellys Nachricht nicht stimmte.
Ihre Lehrerin drehte sich um und hob die Hand, um die Klasse zum Schweigen zu bringen. Mrs Jasper war eine elegante Frau mit langem Gesicht und gewellten aschgrauen Haaren, die Vanessa an eine Pferdemähne erinnerten.
»Der Mythos und seine Bedeutung«, sagte sie in vornehmem Tonfall. »Sie bilden das Rückgrat jeder Geschichte, jedes Schauspiels, jeder Figur. Das Rückgrat von allem, was wir je auf einer Bühne in tänzerischer Darbietung gesehen haben.« Sie stand hinter dem Pult und schaute die Klasse über ihre Adlernase hinweg an. »Geschichte und Figuren sind immer Teile aus einem Mythos.«
Sie hielt einen Vortrag über die Geschichte der Mythologie und wie sich daraus das Theater und das Schauspiel entwickelt hatten. Mittendrin ging die Tür auf, und Justin kam herein, einen Schal lockerum den Hals geworfen, einen Stift hinter dem Ohr. Er hatte weder Bücher noch ein Heft dabei. Hinter ihm schoben sich die massigen Gestalten der Fratelli-Zwillinge ins Zimmer.
Justin warf Mrs Jasper einen lässigen Blick zu, als ob er gar nicht merken würde, dass er zu spät kam. »Wir hatten ein Treffen mit Hilda«, sagte er und gab ihr einen Zettel.
Mrs Jasper überging das, nickte ihm streng zu und drehte sich wieder zur Tafel. Justin spähte auf der Suche nach einem freien Platz in der Klasse umher, bis der Blick aus seinen kühlen blauen Augen an Vanessa hängen blieb.
Rasch senkte sie den Blick. Alles an Justin beunruhigte sie – von seinem windzerzausten Haar bis zu der anmaßenden Art, wie er ins Zimmer stolzierte, als ob er sich für etwas Besseres hielt als alle anderen. Er hatte nichts von Zeps geheimnisvollem Charme. Als würde er merken, dass ihre Gedanken um ihn kreisten, setzte sich Justin direkt hinter Vanessa. Die Fratelli-Zwillinge nahmen wie Leibwächter rechts und links neben ihm Platz.
Vanessa rutschte auf ihrem Stuhl herum.
»Hübsches Notizbuch«, sagte er über ihre Schulter hinweg.
Vanessa drehte sich um, und plötzlich waren ihre Lippen nur noch Zentimeter von Justins Mund entfernt. Sie war ihm so nahe, dass sie seine Haut riechen konnte: frisch wie die Sonne, die sich aus dem Ozean erhebt. Vanessa spürte, wie sie errötete und schaute zur Seite. Sie versuchte, nicht auf
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