Dancing Jax - 01 - Auftakt
abgehärtet er mit den Jahren tatsächlich geworden war. Die meisten dieser Jugendlichen waren seiner Meinung nach nichtsnutzige Gangmitglieder oder schlicht hoffnungsloser Abschaum, der zur Gesellschaft nichts beitragen, sondern lediglich auf ihre Kosten leben würde. Doch in diesem Augenblick sah Martin seine Schüler mit neuen Augen und zum ersten Mal klar und deutlich. Sie alle waren … nur Kinder.
Die Katastrophe hatte mehr verursacht, als ihnen ihre Freunde und Klassenkameraden zu rauben. Sie hatte ihnen auf brutale Art bewiesen, dass sie nicht unbesiegbar und unsterblich waren. Sie hatte sie, in düsteren Lauten und Farben, mit dem absoluten Chaos konfrontiert – und das hatte sie zu Tode verängstigt. Jetzt waren sie erneut auf der Suche nach Sinn und Ordnung, und in ihrem pubertierenden Universum gab es dafür keinen geeigneteren Ort als den Unterricht von Martin Baxter. Er war der Inbegriff von Beständigkeit und Struktur.
All das begriff der Mathematiklehrer mit einem Mal, als würden ihm urplötzlich Schuppen von den Augen fallen, und einige Sekunden lang schämte er sich fürchterlich. Doch die hoffnungsvollen Gesichter warteten noch immer.
»Schlagt eure Bücher auf«, sagte er schließlich. »Wir fangen an mit –«
»Was halten Sie von der Zahl, Sir?«, fragte Owen.
»Zahl?«
»Die Anzahl von Smileys.«
»Ich fürchte, ich verstehe nicht ganz.«
Einer der anderen Schüler schloss sich an. Vielen von ihnen war die Übereinstimmung gestern aufgefallen und sie waren nur zu begierig, darüber zu reden.
»In der Einladungs-Mail, die an alle verschickt worden ist«, erklärten sie dem Lehrer, »da waren einundvierzig Smileys.«
»Und dann sind einundvierzig Menschen gestorben …«
Vollkommene Stille senkte sich über den Raum. Die Schüler blickten ihren Lehrer an und hofften, dass er für sie Licht in diese Angelegenheit bringen konnte. Martin spürte, wie ihn eine Gänsehaut überzog. Dann bemerkte er, dass jemand die Tür geöffnet hatte und es von draußen hereinzog.
Emma Taylor betrat das Klassenzimmer. Martin warf rasch einen Blick zu Sandra hinüber. Das Dixon-Mädchen wirkte heute anders als sonst. Ihr Haar, das sie normalerweise hinter ihren Ohren versteckte, war auf eine merkwürdig altmodische Art hochgesteckt. Sie schien abwesend und sah nicht mal auf, als ihre Angreiferin hereinkam.
»Ich werd bestimmt keinen Ärger machen«, versprach Emma, die ebenfalls in Sandras Richtung geschielt hatte. »Ich komme gerade von Mr Milligan, Sir.«
Martin nickte. »Ich weiß. Hör mal, Emma … Wenn du lieber woanders sitzen möchtest – wir haben eh gerade die Reise nach Jerusalem gespielt. Genauso gut können wir auch noch eine weitere Runde durchziehen.«
»Warum sollte ich den Platz tauschen wollen? Mein Tisch ist da drüben.«
Deutlich spürte sie Conors Blick auf sich, als sie zur hinteren linken Ecke des Zimmers schritt und ihren Rucksack auf Keeleys Stuhl schmiss, um sich dann daneben niederzulassen. »Also, was machen wir heute?« Ihre Stimme und Miene waren wie aus Stein.
Der Rest der Stunde verlief so normal, wie es den Umständen entsprechend möglich war. Selbstverständlich hatte Emma alle ihre Bücher vergessen. Als der Unterricht vorbei war und der Rest der Klasse nach draußen schlurfte, rief Martin Sandra zu sich.
»Glaubst du wirklich, dass es gut ist, heute schon wieder zur Schule zu kommen?«, fragte er besorgt. Selbst für sie war es ungewöhnlich, während der Stunde derart still zu sein.
Aufmerksam betrachtete der Mathematiklehrer ihr blasses, angeschwollenes Gesicht. Der Ausdruck darin wirkte irgendwie distanziert, ja beinahe gelassen. Unbewegt erwiderte sie seinen Blick.
»Es geht mir ausgezeichnet, Sir«, antwortete sie, als er erneut fragte. »Warum auch nicht?«
»Alle Lehrer werden ein Auge auf sie haben«, versprach Martin. »Wir lassen nicht zu, dass so etwas noch einmal passiert. Obwohl ich gar nicht glaube, dass Emma es noch mal drauf ankommen lässt – nicht mal sie ist so dumm.«
Sandra schenkte ihm ein merkwürdig verschmitztes Lächeln. Ihm fiel auf, dass ihre Pupillen außergewöhnlich groß waren.
»Das alles liegt ein Leben weit zurück«, sagte sie, als wäre sie der Lehrer und erklärte einem besonders begriffsstutzigen Schüler etwas völlig Offensichtliches. »Ich bin wiedergeboren, in völlig neue und sauberere Schuhe – in eine bessere, klarere Welt. Nichts, was in diesem tristen Leben geschieht, ist noch von Bedeutung.« Ihr Lächeln
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