Dancing Jax - 01 - Auftakt
manchmal tauchten auf einmal ganze Passagen in Versform auf – ohne ersichtlichen Grund. Dann wieder wurde die Sprache so mehrdeutig und undurchsichtig, dass Martin keine Ahnung hatte, was der Autor eigentlich sagen wollte, während die Formulierungen an wieder anderen Stellen fast kindisch wirkten. Wie um alles in der Welt konnte man Kindern das zumuten? Obendrein schien es auch keine durchgängige Geschichte zu geben.
Das Buch war in mehrere Abschnitte gegliedert. Der erste beschrieb das Weiße Schloss und die idyllische Landschaft, die es umgab, indem er die verschiedenen Merkmale aufzählte – fast wie in einer Ferienbroschüre. Dann wurde nacheinander, immer in einem eigenen Kapitel, jede der Personen vorgestellt. Es wurde beschrieben, wer sie waren, und kleine Anekdoten über sie und ihre Abenteuer erzählt. Besonders gründlich wurde ihr Aussehen beschrieben, vor allem ihre Kleidung war bis ins Detail erfasst.
Ein wahres Sammelsurium an Vorlagen hatte dafür Pate gestanden: Die Spielkartenfiguren und deren Kostüme waren die offensichtlichsten, ebenso wie Harlekine, alte Trachten und die Gewandungen der englischen Moriskentänzer. Es gab auch eine Reihe von Urgestalten, wie die Hexe, den Jäger, der ein Werwolf ist, den Schlossvogt, die gute Fee, den schlauen Fuchs, der sprechen kann, den Minnesänger, den Mistelkönig, die Bettelfrau, den fahrenden Soldaten, den listigen Schmied und den heldenhaften Ritter. Für jeden Geschmack war das Richtige dabei. Einige der Figuren hatten sogar ihre eigenen Lieder oder Sprüche.
Auch andere Personen hatten kurze Auftritte in jedem dieser einführenden Kapitel, doch nur eine war allgegenwärtig – der Heilige Magus, der Ismus. Alle verehrten ihn und sein Wort war Gesetz. Nur der Jockey schien das Recht zu haben – oder war kühn genug –, ihn herauszufordern oder ihm eins auszuwischen …
Martin blickte auf. Dieser Mann, mit dem Shiela unterwegs war, gab sich also als Ismus aus? War das wirklich so unnormal? Er dachte an die Science-Fiction-Conventions, an denen er schon teilgenommen hatte, für die sich die Fans einen ganzen Tag – und Abend – lang in liebevoll gestaltete Nachbildungen der Outfits ihrer Lieblingscharaktere schmissen, ohne sich das Geringste dabei zu denken. Einmal hatte er während so eines Events eine absolut witzige Nacht in der Hotelbar verbracht und mit zwei sehr überzeugenden Klingonen in meisterhaften Kostümen und einem asiatischen Superman eine Bombenzeit gehabt.
Seine Konzentration ließ nach. Er sah sich im Zimmer um – flackerte das Licht? Plötzlich schien alles um ihn herum heller und seine Ohren fühlten sich an, als wäre er eben aus großer Tiefe aufgetaucht. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund hatte er das merkwürdige Gefühl, dass etwas, irgendwo, gescheitert war.
Martin schob seinen Kiefer erst nach links und dann nach rechts, bis der Druck von seinen Ohren wich, widmete sich in Gedanken seiner DVD-Sammlung und überlegte, was er an diesem Abend schauen sollte. Etwas, was er schon ein Dutzend Mal gesehen hatte, etwas Vertrautes, was im Hintergrund laufen konnte, während er die Arbeiten seiner Schüler korrigierte – vielleicht ein paar Folgen Deep Space Nine.
Er blätterte noch ein wenig im Rest des Buches. Die Gewohnheiten bei Hofe wurden dargelegt und auch, welche Funktion ein jeder im alltäglichen Leben hatte. Es gab Rituale und Gepflogenheiten – und Lieder und sogar Tanzschritte, die damit einhergingen. Es war ein Porträt der kompletten Welt – eine Welt, in der der Ismus als alleiniger Herrscher galt und wo die in ihn vernarrten Frauen nach Einbruch der Dunkelheit zu ihm flogen, indem sie sich mit Minchet einrieben. Minchet war eine Flugpaste, die sie von der Herzkönigin erhielten, die ihrerseits den Karobuben bestochen hatte, damit er den nötigen Zauberspruch dafür von Malinda, der zurückgezogen lebenden guten Fee, stahl …
»Hmmm …« Martin grunzte. Weder gab es eine packende Geschichte noch eine verzweifelte Verfolgungsjagd, die in einem mitreißenden Finale endete. Der Text war schwerfällig geschrieben, voller Wiederholungen, vorhersehbar und teilweise absolut kryptisch. Martin verstand nicht, wie jemand freiwillig seine Zeit opfern konnte, um das zu lesen, aber soweit er feststellte, war absolut nichts Schädliches an dem Buch.
Arme Shiela. Was sie auch geschluckt hatte, es hatte definitiv schrecklichen Schaden bei ihr angerichtet. Er hoffte, dass sie sich Hilfe suchen würde und es vor
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