Dancing Jax - 01 - Auftakt
einzigartig gewesen – man hatte sie als eine der besten Nummern ihrer Art eh und je gelobt. Dreißig Jahre lang hatten Hole and Corner, wie sie sich offiziell nannten, Theater gefüllt, adelige Herrschaften unterhalten und eine langjährige Sendung auf BBC Radio 2 gehabt. Schließlich, nach dem viel zu frühen Tod seines Partners, beschloss Gerald, dass es Zeit war, die Nummer an den Nagel zu hängen, und wollte auch solo nicht mehr auftreten. Also ließ er die Welt des Showbusiness vollständig hinter sich und zog sich in die Küstenstadt zurück, in der er aufgewachsen war, lehnte jegliche Interviews ab und lebte fortan ein ruhiges Leben.
Auf das kommende Wochenende freute sich Martin nun besonders. Carol hatte ihm Gerald damals vorgestellt. Sie hatte Geralds Partner vor Jahren während seiner letzten Monate im Krankenhaus gepflegt und sich mit beiden angefreundet. Der Rest der Welt schien Hole and Corner mittlerweile vergessen zu haben – oder verwechselte sie mit späteren und unwürdigen Nachahmern, die nicht mal ein Quäntchen ihres Talents hatten. Samstag würde erstklassig werden.
Als Martin zu Hause ankam, war Carol oben und nahm ein langes Bad. Er ging zu ihr, um ihr die tolle Neuigkeit zu überbringen, und auch sie freute sich wahnsinnig.
»Hast du vielleicht ein Glück!«, stellte sie fest. »Bei mir hat es vier Jahre gedauert, bis ich Evelyn treffen durfte. Vergiss aber bloß nicht, dich an die Regeln zu halten, sonst verdirbst du alles.«
»Werde ich nicht«, versprach er. »Darauf habe ich schon eine Ewigkeit gehofft.«
»Mir war klar, dass du Hintergedanken hattest, als du dich mit mir eingelassen hast«, zog sie ihn auf und bespritzte ihn mit Schaum. »Hol mir ein Glas Wein, verehrter Sklave! Mir steht der Sinn nach ein wenig Dekadenz, während ich hier aufweiche.«
Mit einem verschlagenen Grinsen schnappte sich Martin schnell eine Handvoll Schaum, pustete ihn ihr ins Gesicht und rannte dann aus dem Bad, während sie prustend und planschend um sich schlug.
Wieder unten, holte Martin die Hefte aus seiner Tasche, die er korrigieren musste, und legte sie auf den Esstisch. Augenblicklich galt seine ganze Aufmerksamkeit der Ausgabe von Dancing Jacks, die Paul gestern dort liegen gelassen hatte. Der abenteuerliche und beunruhigende Besuch von Shiela Doyle heute Mittag fiel ihm wieder ein.
Martin zog das Buch zu sich und begutachtete das altmodische Umschlagbild in Grün und Creme. »Warum hat sie deswegen so einen Aufstand gemacht?«, murmelte er.
Er setzte sich und öffnete es neugierig.
Der Raum um ihn herum verschwamm.
Die letzten Seiten zeigten eine Landkarte: Das Magische Königreich der Dancing Jacks – eine wunderschöne und detailreiche Zeichnung einer ländlichen Gegend mit einem mittelalterlichen Schloss samt Burggraben namens Mooncaster in der Mitte. Darum herum waren die gedrungenen Häuschen des kleinen malerischen Dörfchens Mooncot zu sehen. Auf einer Wiese graste eine Viehherde an einem Teich, der mit »verflucht« beschriftet war. Es gab mehrere Flüsse und Wälder, verwunschene Wege, die als gestrichelte Linien eingezeichnet waren, Holzhütten und Spukhöhlen, Eingänge zu unterirdischen Tunneln, die Ausläufer eines dunklen Waldes, einen Hexenturm, Wiesen und Weiden – und Straßen, die zu sieben der dreizehn Hügel führten, die alles umrahmten und am äußeren Rand der Karte lagen.
»Ist das da etwa ein Galgen?« Fragend beugte sich Martin näher, um genauer hinzusehen. »Sogar ein Skelett hängt daran – allerliebst …«
Er blätterte um. Die Titelseite zierte ein filigranes Bild, angefertigt vom selben Künstler, das einen aufwendig gefertigten Stuhl aus Schmiedeeisen darstellte. Darunter war in geschwungener Schrift geschrieben: Bis zur Rückkehr des Prinzen der Dämmerung wartet sein Thron.
Das Blut begann in Martins Schläfen zu pochen. Er fuhr sich über die Stirn, ein leises Brummen hallte ihm in den Ohren.
Martin schlug das Impressum auf. »Cloven Press, 1936«, las er. »Muss ein winziger Verlag gewesen sein. Nie davon gehört.«
Als er das Vorwort des Autors las, zog er die Augenbrauen hoch. »Schräg …«
Martin blätterte weiter und begann schließlich zu lesen.
Die Welt der Dancing Jacks war vollständig in einem entfernten Königreich aus der geheimnisumwobenen Zeit der Ritter, höfischen Romanzen, Intrigen und Magie angesiedelt. Martin verzog den Mund. Stellenweise fiel es schwer, der Erzählung zu folgen, es gab komische Wiederholungen und
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