Daniel Taylor und das magische Zepter
Lendenschurzen knieten zu seinen Füßen. Es waren Sklaven.
War er ein Pharao gewesen, oder war sein Geist mit einem ägyptischen Herrscher verbunden, der einst das Zepter missbrauchte?
Plötzlich wusste Mike, was die Inschrift auf dem Stab bedeutete: Peret … em-bah netjer … Ich gebe meine persönlichsten Dinge, die dargebracht werden dem großen Gott. Dem Gott der Finsternis und des Verderbens, damit er meine Wünsche erfülle …
Mikes Puls raste. Er konnte Hieroglyphen lesen! Doch was viel erstaunlicher war und ihn beinahe von den Füßen riss: Er spürte, welch verborgenen Kräfte er besaß: Er war ein Seher! Der magische Stab verstärkte irgendwie seine schlummernde Gabe!
Geschmeidig sprang er von der Statue, während neue Bilder vor seinem inneren Auge entstanden: Eine Wächterin hatte einst das Artefakt erschaffen. Ihr Name war Anastissa. Kitana, Daniels Mutter, war ihre Urenkelin! Die eigene Tochter hatte Anastissa getötet, und die Frauen der nachfolgenden Generationen hatten fortan das Zepter bewacht. Nur ein Bluterbe konnte die volle Kraft des Artefaktes ausschöpfen.
Wow! Taumelnd blieb Mike stehen. Wenn er den Spruch aufsagte, wäre er kein unbedeutender Handlanger mehr! Seine Fähigkeiten schlummerten tief in ihm. Mithilfe des Zepters könnte er sie trainieren, sie entfalten und stärken – die Zukunft beeinflussen! Aber Mike brauchte Daniel dazu oder … Marla! Sie entstammte auch aus Anastissas Linie! Er hatte ja gehört, wie Obron und Metistakles darüber geredet hatten.
Wenn er sie heilen könnte …
Mike zögerte, den Spruch auf dem Stab laut auszusprechen. Mit Marlas Hilfe würde er alles und jeden unterwerfen können und es der Gilde und seinen Eltern zeigen!
Tief in ihm lagen Gefühle verborgen, die ihm Angst machten, Gefühle, die dieser Pharao besessen hatte. Oder auch nicht besessen. Er war kalt gewesen – ein Mann mit einem Herz aus Stein. Ungerecht, grausam. Unzählige Menschen waren seinetwegen ums Leben gekommen. Er hatte seine Seele gegen grenzenlose Macht getauscht. Das Zepter saugte einen förmlich aus.
Mike schüttelte sich und Gänsehaut kroch über seinen Körper. Plötzlich wirbelte ein Schatten um ihn herum und riss ihm das Zepter aus den Fingern. Sofort war Mike wieder klar im Kopf. »V-verdammt, was war das?«, stammelte er.
Daniel stand neben Marla, das Artefakt in der Hand. Er war der Schatten gewesen! Schon in der Unterwelt hatte Mike Taylors Kräfte bewundert. Mike hätte sich mittels des Zepters mit ihm messen können, doch nun war er wieder nur Michael Standon. Aber er wollte auch viel lieber normal sein als ein machtgieriger, gewissenloser Herrscher. Die Bilder hatten ihn verstört.
Erleichtert atmete er auf, froh, diese Bürde loszuhaben. Das Zepter hätte beinahe die Kontrolle über ihn bekommen!
»Marla!« Er lief zu ihr, nahm ihre Hand und wandte sich an Daniel. »Bitte hilf ihr!«
Taylors Augen glommen in der Dunkelheit kurz wie glühende Kohlen auf. Da begann der rote Stein seines Amulettes grell aufzuleuchten und Taylors Augen wirkten wieder normal. Das Horusauge schien ihn vor der Versuchung zu schützen. Mike setzte alle Hoffnungen in ihn. Daniel war der Einzige, der Marla retten konnte.
Noch nie war Daniel nervöser gewesen. »Was muss ich tun, Dad?« Er hatte keine Ahnung von ägyptischen Schriftzeichen und wusste nicht, wie sie ausgesprochen wurden, und er wollte es nicht vermasseln. Marlas Leben lag in seinen Händen!
James stellte sich dicht neben ihn. »Ich werde vorlesen, was dort geschrieben steht, und du sprichst mir einfach nach. Was immer du dann fühlst oder denkst, versuche dich stets daran zu erinnern, wer du bist. Lass dich nicht von deiner dämonischen Seite verführen! Denk an deine Schwester. Nur du kannst sie retten!«
»Wie?« Daniel spürte, dass der Stab ein seltsames Vibrieren produzierte und eine angenehme Wärme von ihm ausging. Aber da war noch mehr, eine unsichtbare Macht, die an seinem Geist zerrte. Das bereitete ihm Unbehagen.
»Du musst dir vorstellen, Marla zu heilen«, sagte sein Dad. »Alles, was du dir ausmalst, ist mit dem Zepter möglich. Seine Macht kennt kaum Grenzen, außer denen des Universums, falls das überhaupt ein Ende besitzt. Du musst dir stets bewusst sein, dich nicht von der Kraft verleiten zu lassen und keine Dummheit anzustellen.«
Eine »Dummheit« nannte es James, Daniel würde es eher als »ultimative Katastrophe« bezeichnen. Dennoch nickte er entschlossen.
James atmete tief ein.
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