Dann gute Nacht Marie
Samstagmorgen erwachte Marie mit äußerst gemischten Gefühlen. Am Abend würde sie ein sicher sehr unterhaltsames Abendessen mit »ihrem« gut aussehenden Dozenten haben, der neben seiner ansprechenden Optik auch noch Intelligenz und Witz sein Eigen nannte. Genau dieses äußerst vielversprechende Treffen konnte sich aber bei ungünstigem Verlauf genauso gut zur größten Peinlichkeit aller Zeiten entwickeln, und zwar nicht für den vom Schöpfer großzügig bedachten, souveränen Herrn Maibach, sondern für die im Leben meist zu kurz gekommene Frau Hartmann. UNTERSTREICHEN.
Man musste also an diesem Abend auf eine ganze Palette verschiedenster Großereignisse gefasst sein, was Maries Nervenkostüm schon beim Gedanken daran maßlos überforderte. Infolgedessen drehte sie sich nach einer ersten Betrachtung des Tagesprogramms erst noch einmal in ihrem Bett auf die andere Seite und zog sich die Decke über den Kopf. ZWISCHENABLAGE.
Am gestrigen Freitag war sie zwar äußerst fleißig gewesen, doch war noch nicht klar, ob ihr die Ergebnisse weiterhelfen würden. Anstatt sich vollkommen in die Krimirecherche zu stürzen, hatte sie einen eher Marieuntypischen Einfall gehabt und zunächst einmal einen Friseur aufgesucht.
Während sie dort auf dem Stuhl saß und eine Kopfmassage bekam, hatte sie sich über sich selbst gewundert. Spontan zum Friseur? Eigentlich gar nicht Marie-like. UNTERSTREICHEN. Der Chef selbst verpasste ihrem schulterlangen Haar einen lockeren Stufenschnitt, der ihr Gesicht »weich umschmeichelte«, wie er sich ausdrückte.
Nach Verlassen des Geschäftes blieb sie an jedem Schaufenster stehen, um sich darin zu betrachten. Offene, locker fallende Haare? Eigentlich gar nicht Marie-like. Doch damit nicht genug.
Von den Aushängen eines Kosmetikstudios zwei Straßen weiter wurde sie dazu verleitet, auch ihm einen Besuch abzustatten. Die Behandlung dauerte länger als gedacht. Doch die Möglichkeiten, die die Kosmetikerin ihr genannt hatte, waren zu verlockend gewesen, als dass Marie ihnen hätte widerstehen können. Ungeplante Geldausgaben für unnötige Extras? Auch nicht Marie-like. Trotzdem waren zur Gesichtsbehandlung mit Reinigung, Power-Ampulle, Massage und Maske noch Augenbrauen- und Wimpernfärben gekommen, und auch die Maniküre mit Lackieren der Fingernägel konnte Marie nicht ablehnen. Alles eigentlich gar nicht Marie-like.
Zumindest konnte sie ihrem baldigen Ende jetzt äußerlich vorbereitet entgegensehen, hatte sie die kurzfristige Ausgabe von über hundert Euro vor sich selbst gerechtfertigt und umgehend den Heimweg angetreten. Zu Hause hatte sie dann erst noch einmal etwa eine halbe Stunde vor dem Spiegel gestanden, um sich an den neuen, zugegebenermaßen vorteilhaften Anblick zu gewöhnen.
Beim Gedanken daran schreckte Marie jetzt unter ihrer Bettdecke auf. Wie konnte sie nur leichtfertig das gestern so mühevoll erarbeitete und ziemlich teuer bezahlte Aussehen aufs Spiel setzen und in ihrer »Höhle« die hübsche Frisur mehr als nötig gefährden? Es war also objektiv betrachtet genug mit dem Kopf-in-den-Sand-oder-unterdie-eigene-Bettdecke-Stecken, und Marie beschloss ganz subjektiv, sich den Herausforderungen des Tages todesmutig zu stellen.
Das Schlimmste, was passieren konnte, war ein vorzeitiges Inkrafttreten von Plan B, der ursprünglich Plan A gewesen war und ihr eigenes Ableben in noch nicht perfekter, aber doch angemessener Weise regeln würde. Ihre Vergangenheit und Gegenwart waren bis auf ganz wenige Ausnahmen - Badezimmerinhalt, Terminkalender und einige Erinnerungsstücke - sorgfältig zensiert, die Wohnungsverschönerung nicht zwingend nötig, fehlte nur noch die durchaus nicht unwichtige Todesart. Die konnte man aber bei extrem ungünstigem Verlauf des heutigen Abends zur Not improvisieren: Ein Sturz aus dem Fenster eines oberen Stockwerks, ein Sprung vor den Zug oder die Einnahme einer Packung Schlafmittel gelang vermutlich auch kurzfristig. SPEICHERN.
Mit dieser beruhigenden Erkenntnis wagte sich Marie schließlich aus dem Bett und an die Verwirklichung des aktuellen Plans A, der die Zufriedenstellung des Lutz Maibach und infolgedessen seine subtile Gewinnung für die unbewusste Mitarbeit an Plan B zum Ziel hatte. Auf dem Weg dahin hatte sie gestern Abend zumindest noch einen Teilerfolg errungen, indem sie sich entschlossen hatte, ihren Kriminalroman im Umfeld einer Universität spielen zu lassen. Da konnte sie als Handlungsort wunderbar
das Institut für
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