Dann mach ich eben Schluss
lassen.«
Natalie überlegt, blickt auf ihre FüÃe, zurück in den Musiksaal, dann zu mir. Sie schüttelt den Kopf, zuerst zaghaft, dann ganz entschieden.
»Sorry, Max«, sagt sie schlieÃlich. »Ich weiÃ, ich habâs dir versprochen, und normalerweise würde ich alles liegen lassen, um dir beizustehen, allein schon um unserem Alten zu zeigen, dass er so nicht mit dir umspringen kann. Aber Jugend musiziert â das bedeutet mir genauso viel wie dir dein Zeichnen. Ich kann das jetzt nicht hinschmeiÃen.«
Wir schweigen beide. Jemand ruft aus dem Saal nach Natalie.
»Hey, du packst das«, sagt sie leise. »Ganz sicher, Max. Da musst du jetzt eben durch, denk einfach daran, was danach Tolles auf dich wartet. Du musst ihn nicht um Erlaubnis bitten, vergiss das nicht. Sei auch mal stur, so wie er!« Sie umarmt mich. »Ich muss wieder rein. Schick mir hinterher auf jeden Fall âne SMS, wie es gelaufen ist, ja? Ich komme, so schnell ich kann.«
Mein Vater sitzt am Esstisch, als ich die Wohnung betrete. Vor ihm ein Brief, den er kopfschüttelnd und mit zusammengezogenen Augenbrauen liest, daneben eine leere Espressotasse. Meine Mutter huscht durch die Wohnung, auf den Armen einen Korb mit nasser Wäsche. Ihr Gesicht sieht blass aus, sie ist ungeschminkt. Also hat sie meinen Vater noch nicht erwartet. Als sie mich sieht, stellt sie den Korb auf den Boden.
»Matthias ist ganz auÃer sich«, platzt sie mit gedämpfter Stimme heraus. »Nimm nicht alles persönlich, was er sagt, in der Firma haben sie gerade die Hälfte der Belegschaft entlassen. Alles betriebsbedingte Kündigungen. Jetzt ist seine Stelle natürlich auch in Gefahr, er ist ja erst seit fünf Jahren in der Firma.«
»Deshalb zitiert er mich hierher? Er hätte es uns doch abends sagen können, wenn auch Nati da ist.« Meine Gedanken wirbeln durcheinander wie Herbstlaub in einem Orkan, in mir tobt eine Mischung aus Erleichterung, weil ich also nicht der Grund für sein erregtes Gemüt bin, und Fassungslosigkeit. Mein Vater, arbeitslos.
»Nicht nur deswegen«, flüstert meine Mutter. »Er hat einen merkwürdigen Brief gefunden und behauptet, du hättest dich an einer Fachoberschule beworben?«
Ich blicke zu Boden. Das passt jetzt überhaupt nicht, wo meine Eltern ganz andere Sorgen haben. Ich konnte es nicht ahnen.
»Warum hast du denn nicht mit uns gesprochen, Junge?«, flüstert meine Mutter weiter. »Was hast du dir nur dabei gedacht? Oder war das nur aus einer Laune heraus? Du hast es doch gut in deiner Schule.«
»Sag ich euch gleich«, murmele ich, hänge meine Jacke auf und gehe rüber ins Wohnzimmer, eigentlich müsste ich dringend zur Toilette und Durst habe ich auch, doch ich spüre, dass mein Vater keinen Aufschub dulden würde. Meine Mutter stellt mir ein Glas naturtrüben Apfelsaft hin. Ich setze mich meinem Vater gegenüber. Jetzt ist es also so weit, denke ich. Jetzt muss ich da durch, genau wie Natalie gesagt hat. Seine Augen fahren noch einmal über den Brief, dann sieht er mich an.
»Ich warte«, sagt er. Gibt mir den Brief nicht, erzählt mir nicht den Inhalt. Ich soll anfangen. Ich räuspere mich, meine Kehle ist trocken, mein Shirt klebt nass an meinem Rücken, ich hätte mir doch die Zeit nehmen sollen, zuerst ins Bad zu gehen. Mir die Hände waschen, mich kämmen, das Gesicht mit kaltem Wasser abspülen. Mit voller Blase kann man ein solches Gespräch schlecht führen. Ich wage nicht einmal, einen Schluck aus dem Saftglas zu nehmen, räuspere mich erneut.
»Ist der Brief von ⦠von der Roy-Lichtenstein-Schule?«, erkundige ich mich sicherheitshalber nach endlosen Sekunden.
»Allerdings«, bestätigt mein Vater. Verrät nichts, hält den Brief jetzt so, dass ich nicht einen Blick auf die Buchstaben werfen kann, selbst wenn es mir gelänge, sie auf dem Kopf zu lesen. Verdammt, er soll mir sagen, was sie geschrieben haben. Ob ich angenommen bin. Mir ist klar, dass es ihm darum nicht geht, und dass er weiÃ, wie sehr ich nach dieser Antwort lechze. Er weià es, sieht es mir an. Und er genieÃt es, darüber zu schweigen, alles quälend in die Länge zu ziehen. Zuzusehen, wie ich vor Spannung beinahe verrückt werde.
»Herr Brückner hat mir die Adresse gegeben«, beginne ich also. »Diese Schule wäre eine ganz neue Chance für mich.
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