Dann mach ich eben Schluss
meines Vaters, den Rückhalt meiner Mutter. Delia schiebt ihren Arm unter meinen. Viel hat sie nicht gesagt, zwischendurch hatte ich sogar das Gefühl, sie schweift ab mit ihren Gedanken. Sie hakt nicht nach, fragt nichts, äuÃert kaum ihre Meinung. Umarmt mich nicht, macht mir keinen Mut. Unter ihren Augen entdecke ich bläuliche Schatten, und als ich beim Gehen meine Hand unter ihre weinrote kurze Lederjacke schieben will, weicht sie zurück.
»Ich will dir etwas zeigen«, sagt sie leise und führt mich an der Kapelle vorbei, dann vom Hauptweg fort auf schmalere Sandwege, hier werden auch die Gräber kleiner, bescheidener, manche von ihnen wirken bereits vergessen, die Grabsteine brüchig und mit Moos überzogen, die Beete nur noch von wucherndem Efeu bedeckt, die Umrandungen schief, als hätte jemand dagegen getreten. Vor einem frischen Grab bleibt sie stehen. Der Ort wirkt friedlich, das Grab liegt ein wenig abseits von den anderen unter dem langen Schatten einer bereits zart belaubten Platane mit einer weiÃen Sitzbank darunter, gestiftet von einem Privatmann. Kein Kranz liegt auf der frisch aufgeschütteten Erde, nur ein verloren wirkendes mageres Gesteck mit einer schwarzen Schleife daran, »Bis wir uns wiedersehen, meine Einzige« steht darauf. Aber die Blumen wirken liebevoll zusammengestellt, drei leuchtend gelbe Freesien, ein paar Gräser und zarte Maiglöckchen, eine einzelne rote Rose in der Mitte, fünf Kornblumen. Delia verharrt davor, schweigt. Als ich sie verstohlen von der Seite ansehe, sehe ich eine Träne in ihren Wimpern hängen. Mit einer unwilligen Geste wischt sie sie fort.
»Sie ist neunundachtzig geworden«, sagt sie mehr zu sich selbst. »Ihr Mann, also ihr Witwer jetzt, ist fast auf den Tag genauso alt. Er hatte nur ganz wenig Geld, hätte sich eigentlich nicht mal die Rose leisten können. Sie waren siebzig Jahre verheiratet. Ich wollte ihm helfen.«
»Kanntest du ihn?«
Delia schüttelt den Kopf. »Er hat sie so geliebt.«
»Deshalb hast du ihm diesen besonderen Strauà gebunden. Man sieht, wie viel Mitgefühl du in die Arbeit gelegt hast.«
»Er wird auch bald sterben.« Noch immer achtet sie nicht auf mich, nicht auf das, was ich sage. Geht in die Hocke, um den Strauà so hinzulegen, dass er noch besser zur Geltung kommt. Die frisch aufgeschüttete Erde darunter ist noch feucht. »Ich muss immer an ihn denken«, fährt sie fort. »Wie soll er die Tage nur ohne sie überstehen, bis es so weit ist. Jetzt sitzt er da ganz allein, zum ersten Mal nach so langer Zeit.«
»Es muss schrecklich für ihn sein.«
»Sie waren immer zusammen.« Delia richtet sich wieder auf, streift mich nur kurz mit ihrem Blick. »Von so einer Liebe träume ich auch. Von jemandem, der bei mir bleibt bis zum Tod und nie aufhört, mich zu lieben. So eine Liebe ist etwas Kostbares, ich glaube, da vermisst man gar nichts. Auch wenn um einen herum alle mit ihren vielen Erfahrungen angeben. Das ist alles so unwichtig im Vergleich zu so einer Liebe.«
»Finde ich auch«, beeile ich mich zu sagen, wie konnte ich die ganze Zeit immer nur von mir reden, fast immer ist es so, wenn wir zusammen sind, ich hätte viel mehr auf sie eingehen sollen, Delia hat viel Schlimmeres hinter sich als ich.
Noch einmal versuche ich zaghaft, meinen Arm um ihre Schulter zu legen. Dieses Mal lässt sie es geschehen, lehnt sich jedoch nicht an mich, erwidert meine Berührung nicht. Ein paar Minuten lang verharren wir so, ich wage kaum zu atmen. Ein milder Frühlingswind fährt unter die Blätter der Rose und lässt sie erzittern.
»Ich hab dich gesehen, Max«, bringt Delia schlieÃlich hervor, ohne mich anzusehen. »Am Samstag. Deine Freundin war bei dir.«
In meinem Kopf rattert es. Samstag, Annika und ich. Das Frühlingsfest, ich war nicht einmal besonders lange dort, und ich war froh, als ich gehen konnte. Der Vorwand, noch etwas für die Schule tun zu müssen, zählt immer. Nein, jagt es mir durch den Kopf. Nein, lass Delia nicht ausgerechnet diese Minuten beobachtet haben.
»Du warst beim Frühlingsfest?«, frage ich.
»Auf dem Riesenrad«, bestätigt sie. »Ich war allein dort, wollte die Welt von oben sehen. Lieber wäre ich mit dir gegangen, aber du hattest ja für Samstag abgesagt, ich konnte nicht wissen, dass du auch auf dem Rummelplatz bist. Vom
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