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Dann mach ich eben Schluss

Dann mach ich eben Schluss

Titel: Dann mach ich eben Schluss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Fehér
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Gefühle gehörten nicht mehr dir, aber dafür meine, so lange schon, so lange. Was soll ich tun?
    Die nächsten Tage ziehen für Paul trostlos vorbei. Annika ist kaum noch on, am dritten Abend schickt er ihr eine gewollt belanglose SMS, die sie nicht beantwortet. Max’ Zeichnung scheint alles verändert zu haben, vielleicht braucht sie diesen Rückzug von Paul, hat sich professionelle Hilfe gesucht, um alles aufzuarbeiten. Vielleicht tobt auch in ihr ein Gefühlschaos, die Schuldgefühle Max gegenüber auf der einen Seite, zarte Regungen für Paul auf der anderen, zweifellos waren sie vor Max’ Tod da, er hat es gespürt und sonst hätte sie ihn nicht geküsst. Annika mag richtig liegen, wenn sie sich im Nachhinein selbst als ein wenig oberflächlich bezeichnet, aber genau wie bei ihm selbst ist das doch nur Fassade. In der Schule und bei Freizeitaktivitäten in der größeren Clique zeigt niemand sein wahres Gesicht, da ist vieles nur Show.
    Wenn ich nur raus könnte, denkt er wieder und wieder; endlich raus hier, aus dem Bett, dem Krankenhaus. Wieder gehen können, mich in der Welt bewegen, die doch immer meine war, sie wieder unter meine Kontrolle bringen, alles richten, nach vorne schauen. Mich um Annika kümmern, so wie sie es verdient hat, sie braucht jetzt jemanden an ihrer Seite, und nicht nur die Eltern. Es kann nicht sein, dass ich hier immer noch liege, von Schrauben und Platten zusammengehalten und das Leben üben muss wie ein Kleinkind oder ein Greis nach einem Schlaganfall. Ich will leben, verdammt. Max ist tot, aber es muss doch irgendwie weitergehen, sie können mich nicht ewig hier einsperren. Sein Blick tastet die vanillegelb gestrichenen Wände seines Zimmers ab und bleibt an dem einzigen Bild hängen, das die Wand ziert, ein Blumendruck, austauschbar und langweilig, aber farblich auf die Wandfarbe abgestimmt. An der linken unteren Ecke kleben noch die Reste eines Etiketts, grau und staubig; seit er hier liegt, muss er immer wieder auf diese Stelle starren, ob er will oder nicht, dieser Fleck stört ihn, die Putzfrau könnte ihn endlich entfernen, so blind kann sie nicht sein, er würde es auch selbst erledigen, ein Spritzer Glasreiniger genügt doch sicher, oder etwas Acetonhaltiges, es muss ihr doch auffallen. Er will nicht immer darauf starren, jeden Tag, es macht ihn verrückt, alles hier drin macht Paul verrückt, er will raus, zu Annika, ihr irgendwie erklären, was er ihr die ganze Zeit schon sagen will. Er hasst diesen Kontrollverlust, dieses Ausgeliefertsein, warum ist das alles passiert, warum hat Max das getan, warum, warum, WARUM? Er beißt die Zähne zusammen, tritt mit dem rechten Fuß gegen das Ende seines Bettes, schreit auf vor Schmerz, der sofort durch sein Becken jagt, sekundenlang ist ihm schwarz vor Augen. Lange verharrt er regungslos, bis der Schmerz nachlässt, tastet seine Hüfte vorsichtig mit den Fingerspitzen ab, als könne er so feststellen, ob er sich verletzt hat.
    Jeden Tag sehnt Paul seine Physiotherapiestunde herbei, in der er sich so anstrengt, als gelte es, den Marathon zu gewinnen. Jedes Anziehen und Strecken der Beine, jeder Schritt im Gehwagen, den er am Anfang der Woche bekommen hat und auch die Übungen im Bewegungsbad bringen ihn näher nach Hause, weg von hier, weg von diesem unerträglichen Zustand des Wartens, der unnatürlichen Lähmung, die ihn daran hindert, sein Leben wieder aufzunehmen. Vorher ist Paul immer aktiv gewesen, ständig in Bewegung, nach vorn schauend, positiv, voller Elan, sein Leben in die Hand zu nehmen, zukunftsorientiert. Jetzt ist von ihm nichts weiter gefordert als Geduld. Mit Krafttraining darf er frühestens nach acht Wochen beginnen, knapp fünf davon sind jetzt um, aber jeden Tag dehnt er seine Schritte im Gehwagen weiter aus, obwohl es ihn Überwindung kostet, neben Siebzigjährigen über den Flur zu schlurfen. Jeder Schritt bringt ihn näher zu Annika. Wenn sie ihm nicht mehr antwortet, muss er sie suchen, und das kann er nur, wenn er endlich wieder frei ist. Wenn er wieder der Paul ist, der er früher war.
    Annika: Ich war bei Max. An seinem Grab, meine ich. Bin gerade zurück.
    Paul: Du hast dich lange nicht gemeldet.
    Annika: Ging mir nicht gut. Das Grab ist so schön, dass mir die Tränen gekommen sind.
    Annika, wenn du wüsstest, denkt Paul. Natalie wird das Grab kaum zu einem Blumenmeer machen,

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