Dann mach ich eben Schluss
haben.
»Lass mal.« Ich winke ab und löse mich aus Annikas Griff. Wenn sie sowieso an Paul klebt, braucht sie sich auch nicht an meinen Arm zu hängen. »Ich hab Kopfschmerzen und bin alles andere als hungrig. Geht einfach ohne mich.«
7.
Die beiden müssen so perplex gewesen sein, dass sie nicht mal widersprochen haben. Im nächsten Augenblick tut es mir leid, dass ich Annika erneut so habe stehen lassen, aber jetzt kann ich nicht mehr zurück. Sie hat nicht gemerkt, wie es in mir aussieht, wie dringend ich sie gebraucht hätte. Dass sie mal ganz für mich da ist. Nur für mich.
Meine Mutter hat Ratatouille gekocht, frisches Biogemüse mit Vollkornreis und Hackfleisch, sie weiÃ, dass dies eigentlich zu meinen Leibgerichten gehört. Natalie ist noch nicht da, nach den drei Stunden Klausur hatte ich keinen Unterricht mehr, sie hingegen hat heute neun Stunden, also fangen wir an. Aber schon nach den ersten paar Gabeln krampft sich wieder mein Magen zusammen und noch immer pocht es in meinen Schläfen. Es würgt mich fast, ich bringe kaum etwas hinunter. Meine Mutter beobachtet mich beim Essen, wartet auf ein Kompliment, aber ich kann es ihr nicht geben, wenn mir fast jeder Bissen vorkommt, als müsste ich KartoffelklöÃe im Ganzen schlucken, es geht nicht. Mit ihrem Essen kann sie auch nicht jedes Problem aus der Welt schaffen, denke ich und spüre einen unbändigen Zorn in mir aufsteigen. Am liebsten würde ich meinen Teller vom Tisch fegen oder noch besser, diese ganze weià gestärkte Tischdecke mit einem Ruck herunterziehen, sodass alles am Boden zu einer rötlichen SoÃe verläuft und wie Blut in den Teppich sickert, zusammen mit diesem ganzen Getue, alles dreht sich nur darum, dass ich ein bombastisches Abi hinlege, um die Etikette meiner Eltern zu wahren. Ich selber komme in ihren Plänen nicht vor. Der Traumsohn kommt drin vor, aber nicht der Junge, den sie wirklich zum Sohn haben. Mit einer lahmen Bewegung schiebe ich meinen Teller von mir.
»Ich leg mich hin«, sage ich und stehe auf. »Ich glaub, ich hab mir ein Virus zugezogen. Wenn es besser wird, stelle ich meinen Teller abends noch mal in die Mikrowelle. Es ist wirklich lecker, danke.«
Meine Mutter will noch etwas erwidern, ich spüre ihre besorgten Blicke auf mir, aber auch sie lasse ich stehen, genau wie Annika und Paul vorhin, ich weià sowieso, dass sie enttäuscht sein wird, wenn sie hört, wie ich heute wieder versagt habe. Ich enttäusche sie doch alle nur.
Minuten später liege ich auf meinem Bett und starre an die Decke, versuche nicht zu blinzeln, bis ich fast aufhöre zu denken. Aus meinen Stereoboxen dröhnt düsterer Metal, »Join Me In Death« von HIM. Ich habe das ewig nicht mehr gehört, eigentlich ist es Natalies CD, ich habe sie mir irgendwann mal gebrannt. Heute passt sie, an diesem Nachmittag, an dem sich vor meinem Fenster die ersten kräftigen Sonnenstrahlen dieses Frühjahrs in den zartgrün leuchtenden, noch winzigen Blättern der Linde vor meinem Fenster verfangen und wahrscheinlich die halbe Stadt auf den Beinen ist, um in StraÃencafés, bei Waldspaziergängen und ersten Picknicks auf dem Rasen die weiche, milde Luft zu genieÃen. Mir wäre es lieber, es würde Eisregen und ein scharfer Wind durch die StraÃen peitschen, denn ich bin nicht dabei, habe keinen Anteil an dieser Welt, ich liege hier nur, liege wie tot. Die düstere, schwere Musik zieht mich fort und lässt mich verschwinden, ich atme so flach ich kann, um diesem Gefühl nachzuspüren, liege lange so, reglos, stelle mir vor, nie mehr aufstehen zu müssen. Begraben zu sein. Meine Augen sind geschlossen, und ich spüre mich fast nicht mehr, solange die Musik alles betäubt, aber irgendwann ist die CD zu Ende. Ich rühre mich nicht, aber um mich herum kommt alles wieder näher, die Sonnenstrahlen verfinstern die Welt um mich herum weiter, weil sie mich nicht dort lassen, wo ich sein will, sondern mein Zimmer golden einfärben, die Schatten der Ãste und Zweige tanzen an meiner Wand, lebendig. Ich will das nicht, diese Sonne scheint mich die ganze Zeit zu beschwören, auf mich einzureden, geh raus, Max, du verpasst das Leben, es lohnt sich doch, du bist jung, mach es wie die anderen Jugendlichen, wie Paul, wie Annika, du musst rausgehen, lachen, unter Leute kommen, aktiv sein. Alle sind drauÃen, schlieà dich nicht
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