Darf's ein Küsschen mehr sein?
Baumwollschlafanzugs rutschten bis zu den Ellenbogen, als sie sich reckte und streckte. Obwohl es schon kurz nach zwölf war, hatte sie noch nicht geduscht. Ihre gute Freundin Clare duschte und schminkte sich jeden Tag morgens, bevor sie sich zum Schreiben hinsetzte. Maddie nicht. Was zur Folge hatte, dass sie gelegentlich von Fed-Ex überrascht wurde, wenn sie total scheiße aussah. Aber darüber machte sie sich keinen Kopf.
Sie sprang rasch unter die Dusche und dachte über den
Rest ihres Tages nach. Sie hatte eine Liste mit den Namen und Adressen der Menschen erstellt, die in irgendeiner Beziehung zu dem Fall standen. Als Erstes stand ein Besuch im Value-Rite-Drugstore auf dem Programm, wo Carleen Dawson arbeitete. Carleen hatte zur gleichen Zeit bei Hennessy’s gekellnert wie Maddies Mutter. Maddie wollte mit ihr einen Termin für ein Interview vereinbaren, und da hatte ein persönliches Gespräch einem Anruf gegenüber gewisse Vorteile.
Nach dem Duschen rieb sie sich mit einer nach Mandeln duftenden Lotion ein und warf sich in ein schwarzes Wickelkleid, das seitlich an der Taille gebunden wurde. Sie machte sich einen Zopf und legte Mascara und tiefroten Lippenstift auf. Dann schlüpfte sie in rote Sandalen und steckte ein Notizbuch in ihre schmale Aktentasche. Sie hatte zwar nicht vor, irgendwas aus der Tasche zu benutzen, doch sie verlieh ihr ein seriöses Aussehen.
Der Drugstore lag ein paar Blocks abseits der Hauptstraße direkt neben »Helens Haarhütte«. Topfgeranien und eine gelbe Markise verliehen der Fassade ein paar Farbtupfer. Im Innern war der Laden mit allem vollgestopft, was man sich nur vorstellen konnte, von Pflastern über Aspirin bis hin zu Holzfiguren von Wapitihirschen, Elchen und Bären, die Einheimische geschnitzt hatten. Als sie sich an der Kasse nach Carleen erkundigte, wurde sie zum Gang mit Süßigkeiten und Knabberzeug dirigiert.
»Sind Sie Carleen Dawson?«, sprach Maddie eine kleine Frau in einer weißen Bluse mit einer blauroten Schürze an, die sich gerade über einen Wagen mit Marshmallows und Popcorn beugte.
Die Frau richtete sich auf und musterte Maddie misstrauisch durch eine Bifokalbrille. »Ja.«
»Hallo, mein Name ist Madeline Dupree, und ich bin Schriftstellerin.« Sie gab Carleen eine Visitenkarte. »Ich hoffe, Sie haben kurz Zeit für mich.«
»Ich hab gerade keine Pause.«
»Ich weiß.« Carleens Haare waren fast zu Tode strapaziert, und Maddie schoss die Frage durch den Kopf, warum hier manche Leute mit solchen Katastrophenfrisuren rumliefen. »Ich dachte, wir könnten uns außerhalb ihrer Arbeitszeit verabreden.«
Irritiert schaute Carleen auf die schwarzsilberne Karte und blickte wieder auf. »True Crime? Sie schreiben True Crime? So wie Ann Rule?«
Diese Dilettantin . »Ja. Genau.«
»Ich weiß nicht, wie ich Ihnen da helfen kann. In Truly gibt es keine Serienkiller. Vor Jahren gab es mal einen in Boise, der dazu auch noch eine Frau war. Kaum zu glauben, nicht wahr?«
Maddie konnte das durchaus glauben, da ihre Freundin Lucy damals zu den Verdächtigen gehört hatte und weil sie selbst plante, später einmal über den Amoklauf zu schreiben.
»Hier ist doch tote Hose«, fügte Carleen finster hinzu und stopfte eine Tüte Marshmallows ins Regal.
»Ich schreibe aber nicht über einen Serienkiller.«
»Worüber dann?«
Maddie umklammerte ihre Aktentasche fester und vergrub die andere Hand in der Tasche ihres Kleides. »Sie haben vor neunundzwanzig Jahren in der Hennessy’s Bar gearbeitet,
als Rose Hennessy ihren Mann und eine Kellnerin namens Alice Jones erschoss und die Handfeuerwaffe danach auf sich selbst richtete.«
Carleen erstarrte. »Ich war nicht dabei.«
»Ich weiß. Sie waren an dem Abend schon nach Hause gegangen.«
»Das ist lange her. Warum wollen Sie darüber schreiben?« Weil es mein Leben ist. »Weil nicht alle interessanten True-Crime-Geschichten nur von Serienkillern handeln. Manchmal handeln die besten Storys von ganz durchschnittlichen Menschen. Von stinknormalen Leuten, die plötzlich durchdrehen und schreckliche Verbrechen begehen.«
»Kann sein.«
»Kannten Sie Alice Jones?«
»Ja, ich kannte sie. Ich hab auch Rose gekannt, aber ich finde, dass ich darüber nicht sprechen sollte. Es war eine tragische Geschichte, aber das Leben geht weiter.« Sie hielt Maddie die Visitenkarte wieder hin. »Tut mir leid, aber ich kann Ihnen nicht helfen.«
Maddie wusste genau, wann sie drängen und wann sie einen Schritt zurückweichen
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