Dark Angels' Winter: Die Erfüllung (German Edition)
lässt das strahlende Blau des Himmels am Horizont mit dem wogenden Graugrün des Meeres verschwimmen. Es riecht nach Aufbruch und Neubeginn. Wir schweigen und die Glocken des Ordens beginnen zu läuten. Sie rufen die Hüterinnen zum Gebet.
»Wo ist Kat?«, fragt Indie schließlich. Miss Anderson lehnt sich an die brusthohe Mauer. Sie wirkt streng und unnahbar in ihrer Robe, aber gleichzeitig würdevoll und gütig. Ihr Blick ist nicht mehr so hart wie früher. Eine hellbraune Haarsträhne hat sich unter ihrer Kapuze gelöst, sie streicht sie zurück.
»Sie hält innere Einkehr. Zusammen mit ihrer Schwester. Die Hüterinnen, die hier leben, müssen sich streng an die Regeln des Ordens halten. Meditation und das ständige Üben und Perfektionieren der Fähigkeiten stehen an erster Stelle. Nur die älteren Hüterinnen sind davon ausgenommen. Sie kümmern sich um den reibungslosen Ablauf des Zusammenlebens. Sie und die Mütter der Hüterinnen.«
»Wie viele sind es?«, will ich wissen.
Momentan kann ich ungefähr zehn entdecken, doch gestern in der Kapelle müssen über hundert gewesen sein. Ein überwältigender Anblick. Überwältigend, weil ich zum ersten Mal nicht mehr das Gefühl gehabt hatte, alleine zu sein.
»Es sind hundertvierundsiebzig Hüterinnen und dreiundsechzig Mütter. Alle Hüterinnen leben hier, deren Tore endgültig geschlossen wurden.«
»Geschlossen wurden?« Ich sehe Miss Anderson fragend an, doch die schüttelt nur den Kopf.
»Ein andermal«, sagt sie so leise, dass ihre Worte vom Tosen der Brandung verschluckt werden.
»Warum sind wir hier?«, bohre ich weiter, denn das ist die Frage, die Indie und mich am meisten bewegt.
Wir warteten, dass Mum und Emma zurückkamen. Nein. Wir warteten nicht. Wir wussten, dass es geschehen würde. Kurz vor Indies Geburtstag. Diego mahnte uns, geduldig zu sein. Er war in Sam Rosells Laden zurückgekehrt, doch er sah jeden Tag nach uns. Seine Besuche munterten uns auf. Manchmal kam er als Mensch. Öfter als Wolf, so als wäre ihm diese Gestalt die liebere. Manchmal begleitete er mich, wenn ich den Schwarzen ritt. Dann war mein Herz leicht, wir jagten uns über die Wüste, durch den Schnee, den Regen, der das Eis nach dem langen, harten Winter zum Schmelzen brachte. Ab und zu brachte er auch Dusk mit, so als wollte er zwischen uns vermitteln, doch seit dem Abend vor dem Bootshaus, als ich Dusk küsste, steht dieser Verrat wie eine Wand zwischen uns.
Wir bemühten uns, ruhig zu bleiben, verrichteten die Arbeiten auf dem Hof und versuchten, Kompromisse mit den anderen Engelssuchenden zu finden. Wir wollten ihnen nicht alles erzählen, doch wir wussten, dass wir ihre Hilfe brauchen würden. Und wir waren froh, dass sie blieben, dass wir nicht alleine auf Whistling Wing waren. Nur Tara machte uns Sorgen. Sie war wie ein winziges Steinchen im Schuh. Unauffällig und schmerzhaft. Sie schien sich immer mehr von den anderen zu entfernen. Dann kam die Nachricht. Reist nach Frankreich. Kommt zum Orden. In derselben Nacht waren wir aufgebrochen.
»Also«, hake ich nach, »warum. Warum sollten wir nach Frankreich kommen? Warum bist du, Mum, nicht mit Emma zurück nach Whistling Wing gekommen?«
Mum nimmt meine Hände in die ihren. Sie sind warm und beruhigend.
»Die Oberin will euch sehen.« Das Läuten der Glocken verebbt, nun hört man nur noch das Geschrei der Möwen und das beständige Rauschen des Meeres. »Sie wollte es so.«
Langsam schlendern Indie und ich durch den Garten zurück. Er erstreckt sich terrassenförmig von den Klippen bis zum Kloster, hinter dem sich die Morgensonne langsam nach oben schraubt. Die zwei Türme, das Symbol für die ersten beiden Hüterinnen, der massive, behauene Stein, die kleinen Fenster, die eher wie Schießscharten aussehen, das alles ist mir seltsam vertraut. Vor uns eilen Miss Anderson, Mum und Marie Esperance davon. Sie werden zu spät zum Gebet kommen.
»Was hältst du davon?«, sagt Indie neben mir. Sie zieht sich ihr Sweatshirt über den Kopf und bindet es sich um die Taille. Die Sonne entfaltet ihre Kraft und hier im Windschatten der Mauer ist es angenehm mild. Ich tue es ihr nach und genieße die Sonnenstrahlen auf meinen nackten Armen.
»Ich weiß es nicht, Indie. Vielleicht will sie uns helfen.«
»Ich habe kein gutes Gefühl.«
Indie hat nie ein gutes Gefühl. Ich seufze und verknote mein Sweatshirt. Warum spüre ich dann eine so angenehme Ruhe durch meinen Körper kriechen, seit wir gestern Nacht den Orden
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