Dark Angels' Winter: Die Erfüllung (German Edition)
einen feinen Bleistift, um die Linie vor uns zu verfolgen. »Es ist immer wellenförmig. Nach einem schwachen Versuch Azraels folgt immer ein starker. Bis jetzt potenziert ein sehr schwacher Versuch den darauf folgenden starken Versuch. Wobei man natürlich wissen muss, dass auch kleinste Veränderungen in den Berechnungen bei solcher Datenlage enorme Schwankungen bewirken können, deswegen sollte man nicht allzu viel …«
»Die Wahrheit«, sagt Dawna.
Sie ist totenbleich, ihre noch trocknenden Haare kringeln sich um ihren Hals. Ich will es plötzlich gar nicht wissen, was das alles bedeutet. Ich kenne jedes Wort, das die Mathematikerin sagen wird, und ich weiß auch, was das für uns heißt.
»Nach einem schwachen Minimum folgt ein schwaches Maximum«, sagt Kat scharf.
»Und nach einem starken Minimum folgt ein starkes Maximum«, setze ich tonlos hinzu.
Azrael war noch nie so schwach wie an dem Tag, an dem wir das Tor geschlossen hatten. Und er wird so stark sein wie nie zuvor, wenn er versuchen wird, meine Seele zu bekommen.
6
Dawna
I ch halte Indies Hand immer noch fest, als wir im Auto, einem nagelneuen Citroën Jumper, sitzen. Vor uns sind Emilia Ponti und Mum. Emilia Ponti hinter dem Steuer, Mum hat einen Korb auf ihren Knien und sieht wie immer, seit wir sie hier zum ersten Mal getroffen haben, entspannt und glücklich aus. Sie trägt die Tracht der Hüterinnen-Mütter, weiß mit purpurnem Saum. Indie starrt aus dem Fenster auf die karge Landschaft, das violett blühende Heidekraut, die krüppeligen Büsche, die mich schmerzlich an das Brachland zwischen New Corbie und Whistling Wing erinnern.
»Eure Mutter ist mir eine große Hilfe in Saint-Jacut-de-la-Mer«, sagt Emilia Ponti, »sie ist recht geschickt im Umgang mit Kranken.«
Ich sehe, wie sich eine feine Röte über Mums Gesicht ausbreitet.
»Sie ist ruhig und bestimmt. Sie nimmt ihnen die Angst.« Emilia schaltet krachend in den dritten Gang, als wir eine kleine Anhöhe hinauffahren. »Vor allem den Sterbenden.«
»C’est pas vrai«, sagt Mum schnell, »glaubt ihr nicht!«
»Logico!« Emilia Pontis Stimme ist sehr energisch. »Zuerst hatten wir Christine dabei. Wir dachten, es wäre gut, wenn sie eine Beschäftigung hätte.«
Sie meint die Comtesse.
»Aber es war eine Katastrophe. Sie beunruhigte die Leute. Jetzt lassen wir sie bei Emma. Besser für sie und die Menschen in Saint-Jacut.«
Sie lacht polternd und drückt das Gaspedal durch. Ich könnte mir vorstellen, dass die zupackende Emilia Ponti auf Kranke auch nicht unbedingt beruhigend wirkt. Die Straße ist schmal, aber man sieht auf Kilometer, dass uns niemand entgegenkommt. Der Himmel ist blau und aufgewühlte helle Wolken treiben darüber, unwirklich, wie auf einem Gemälde aus einer anderen Zeit. Ich kann mir nur vage vorstellen, was in Indies Kopf vorgeht. Ihre Gedanken sind verschlossen. Nur ab und zu sehe ich Bilder aufblitzen. Eine wulstige Narbe, rote, verwachsene Stränge auf kaffeebrauner Haut. Ein fein säuberlich geharkter Kiesweg. Ich drücke ihre Hand fester und sie wendet mir ihr Gesicht zu. Ihre Augen sind dunkel.
»Warum müssen wir mit?«, sagt sie schließlich. »Haben wir nicht andere Dinge zu tun?«
Eine Frage, die auch mir auf der Zunge liegt. Sollten wir nicht lieber mit der Oberin sprechen? Trainieren? Uns vorbereiten? Mum dreht sich auf ihrem Sitz herum.
»Ihr seid gut. Macht euch nicht verrückt.«
Ich spüre, wie in Indie Wut aufflammt. Sie entzieht mir ihre Hand und legt sie in ihren Schoß, beide Hände zu Fäusten geballt, so fest, dass die Knöchel weiß hervortreten.
»Sie wollen uns aus dem Weg haben«, sagt sie. »Sie wollen über unsere Köpfe hinweg entscheiden, ob sie uns helfen oder nicht. Und sie geben uns keine Gelegenheit, uns zu äußern. Ihnen alles zu erklären.«
»Indie.« Mum zieht ihren Gurt länger, damit sie sich ganz umdrehen kann. »Ich kann verstehen, dass du genervt bist, aber ihr müsst es ihnen zugestehen. Ihr müsst ihnen die Chance geben, euch zu glauben. Auch für sie ist es nicht einfach.«
»Und wenn sie uns nicht glauben?« Meine Stimme hört sich brüchig an und ich suche in Mums Blick nach einer Antwort, die sie mir nicht geben kann. Vor uns taucht das Dorf auf. Wie der Orden ist es auf Fels errichtet, doch die Felsen sind nur einen Bruchteil so hoch wie die des Klosters. Es gibt einen winzigen Hafen, auf dem Fischerboote auf den Wellen schaukeln. Die Straße führt in Serpentinen nach oben und durch einen
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