Dark Angels' Winter: Die Erfüllung (German Edition)
verstecke mich in meinem Kopf. Wenn es sein muss, kann ich dort die nächsten hundert Jahre verbringen, denn mein Wille, dies alles zu beenden, ist stärker als alles andere. In meinem Kopf bin ich immer noch ich.
Ich warte, bis ich den Navara nicht mehr sehen kann, dann fahre ich los. Es ist, als wäre ich sehr lange krank gewesen. Ich kenne dieses Gefühl aus meiner Kindheit. Man verbringt eine Woche mit Fieber im Bett, und wenn man endlich wieder hinauskann, hat es geschneit und die Welt sieht völlig verändert aus. Die Beine sind noch wackelig, aber man kann es nicht erwarten, endlich loszulaufen. Obwohl es draußen so kalt ist, öffne ich das Fenster und lasse den eisigen Fahrtwind hereinströmen. Ich hoffe, dass Indie nicht bemerkt, dass ich weg bin, und mir nachkommt. Sie ist wichtiger. Mir werden die Engel nichts tun, rede ich mir ein. Sie brauchen Indies Seele.
Indie ist viel zu beschäftigt mit den Papieren, als dass sie mich vermissen würde. Sie ist besessen davon und verbringt jede Sekunde damit, sie zu studieren. Mir machen diese unendlichen Seiten nur Angst. Ich will keinen Blick darauf werfen, als könnten sich die vielen Zahlen plötzlich vor meinen Augen formen und etwas Schreckliches preisgeben. Etwas, gegen das wir nicht gewinnen können. Und ich weiß nicht, was es ist. Doch die Gewissheit lauert in meiner Brust und schärft sich die Krallen.
Den Tod, flüstert es in mir, aber ich wische diesen Gedanken weg.
Als ich an der Stelle vorbeikomme, an der ich Dusk zwischen den verknüppelten Wacholderbüschen getroffen habe, lenke ich den Pick-up von der Straße und parke ihn zwischen den Büschen. Ich steige aus und laufe ein paar Meter in das Gestrüpp hinein. Unter meinen Schritten knirscht das Eis. Alles ist von einer puderzuckerfeinen dünnen Schicht Schnee bedeckt und die dunkelblauen Beeren des Wacholders sehen wie kitschiger Weihnachtsschmuck aus. Ich reiße ein paar ab und lasse sie durch meine Finger gleiten. Sie rollen über die sich kreuzenden Linien, heben sich überdeutlich von meinen weißen Handflächen ab.
Hier müsste es sitzen. Genau hier. Das Zeichen.
Die Linien, die bei Indie und mir genau gleich aussehen, die bei Granny genau gleich aussahen, bis auf die feine Narbe, die darüberlag.
Was ist das für eine Narbe, Granny?
… ach das, Schätzchen … da habe ich einmal vor langer Zeit ein Pferd gefangen. Ein wildes … schwarzes, mit Augen wie glühende Kohlen … das hat mir den Zügel durch die Hand gezogen…
Du lügst, Granny …
…ach ja, lass mich nachdenken…es war doch einer der Hunde, der Wüstenhund, er hat …
Granny!
… ich war noch ein kleines Mädchen, so klein wie du, da bin ich in einen Baum geklettert und in diesem Baum war ein Vogel …
Sie konnte ewig so weitermachen. Ich liebte sie für ihre Geschichten. Für ihre tausend Geheimnisse.
Ich versuche, mich daran zu erinnern, was Dusk genau gesagt hat.
Es gibt noch eine Person? Es gibt noch eine euch verwandte Person?
Deine Gedanken sind wie ein Magnet. Sie würden die Engel dorthin leiten. Ihr müsst überleben …
»Verdammte Scheiße«, sage ich laut.
Es hört sich an, als würden der Schnee und der Nebel meine Stimme schlucken.
»Verdammte Scheiße, Dusk«, schreie ich, »was nützt es, wenn wir hier warten, bis es zu spät ist!«
Ich spüre, wie sich Tränen in meinen Augen sammeln, und wische sie ärgerlich weg. Meine Beine zittern. Ich stehe zwischen gefrorenem Wacholder und könnte nur noch heulen.
»Dusk«, schreie ich noch einmal und dränge so meine Tränen zurück, »du musst zurückkommen! Du musst uns helfen. Du musst …«
Ich halte atemlos inne, weil mir plötzlich klar wird, dass ich genau an der Stelle stehe, an der Ferris auf Rag getroffen sein muss. Dieser Gedanke lässt meine Beine noch mehr zittern und ich stolpere zum Wagen zurück. Meine Ohren spielen verrückt. Sie müssen verrücktspielen, denn ich höre das satte Geräusch einer näher kommenden Duke. Wie erstarrt bleibe ich neben dem Pick-up stehen. Das Geräusch wird lauter und bohrt sich in meinen Kopf. Kann etwas schlimmer sein als dieses Geräusch? So viel zu Indies »Wir sind sicher«-Gelaber. Wir sind gar nichts. Wahrscheinlich beobachten uns die Engel ununterbrochen und wissen immer genau, wo wir sind und was wir vorhaben. Wahrscheinlich können wir keinen unbemerkten Schritt tun. Und ich stelle mich wie eine Witzfigur in die Pampa und schreie nach Dusk. Vermutlich lachen sie sich tot über uns – wenn das
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