Dark Angels' Winter: Die Erfüllung (German Edition)
versuche, seine Hand abzuschütteln, doch Pius hält mich fest, legt seine Hand unter mein Kinn und dreht meinen Kopf so, dass ich ihn ansehen muss. Seine strahlend blauen Augen sind heute nicht von Schleiern überzogen. Es ist, als könnte man durch sie hindurch in die Unendlichkeit blicken.
»Ja. Den ersten Teil. Aber eine klitzekleine Kleinigkeit fehlt noch.«
Sein Gesicht kommt meinem so nahe, dass ich das Gefühl habe, diese Unendlichkeit saugt mich auf.
»Aber bis dahin ist es nicht mehr lange«, seine Finger brennen sich in meine Haut, »bald wird es so weit sein. Der Weg war steinig, aber jetzt ist er bereitet. Samael ist zurück.«
Sein Griff wird fester.
»In einer Schale mit Blut hat sie ihn gefangen, in der Mitte des Pentagramms. Sie hat ihn aus dieser Schale gehoben und eine Nacht in der hohlen Hand bewahrt.«
Seine Augen zeigen mir Lilli-Thi. Ihr Kleid ist von Blut befleckt und auch ihre Hände. Sie liegt auf einem Bett, lächelnd, und über ihr glüht der Sternenhimmel. Ihre Hände formen eine Schale und zwischen ihren Fingern leuchtet ein schwacher roter Schein, als hätte sie die aufgehende Wintersonne damit gefangen. Sams Seele. Die Seele des Meisters. Neu geboren, durch uns.
»Samael ist zurück und mit ihm die Kontrolle über die Gefallenen.« Er zieht das letzte Wort genüsslich in die Länge. »Ich weiß, dass du sie auch so nennst, Dawna, und du hast recht, denn sie sind keine Engel mehr. Sie haben ihre Göttlichkeit zurückgelassen. Das war der Preis.«
Und warum, denke ich, warum hast du dich geopfert an einem strahlenden Sommertag? Was hat dich dazu getrieben, ihnen deine Seele zu geben?
»Es ist faszinierend«, sagt Pius, »sie sind gefallen und mit ihnen wird das gesamte Himmelreich zugrunde gehen. Seht sie euch an. Sie sind gekommen, um zu richten … die Lebenden und die Toten.«
Er lenkt meinen Blick zu Rag und dem fremden Engel. Sie stehen Seite an Seite, berühren sich an den Schultern. Genau gleich groß, wie Klone. Nur ihre Gesichter unterscheiden sich. Das Gesicht des Fremden ist noch ebenmäßiger und ich kann mir vorstellen, wie er früher ausgesehen hat. Voller Liebe und strahlend. Jetzt hängt ein fahler Glanz an ihm. Ich glaube, in ihm den Engel zu erkennen, der mich über die Dächer bei Sam Rosells Laden gejagt hat. Wie lange ist das her? Ganze Leben liegen dazwischen.
»Sie sind gefallen und werden sich nun an Gott rächen«, sagt Pius versonnen, »endlich werden sie sich mit eurer Hilfe rächen können. Wie viele Tausend Jahre warten sie schon auf diesen einen Moment. Denn wenn die Schöpfung zerstört ist …«
Er nimmt meinen Kopf in beide Hände, eine fast zärtliche Geste.
»… dann ist auch Gott vernichtet.«
Ein heißer Schauer läuft über meinen Rücken. Vernichtet…vernichtet … vernichtet …
Gott ist meine Wahrheit, denke ich und sehe aus den Augenwinkeln, wie der fremde Engel zusammenzuckt.
»Verstehst du jetzt, Dawna, wie wichtig eure Aufgabe ist? Wie ehrenvoll? Wie großartig? Wie allumfassend? Alles wird ein Ende haben. Jeder Krieg. Jede Liebe. Alles. Ihr werdet uns den Frieden zurückgeben. Denn wo kein Gut ist … ist auch kein Böse …«
Er sieht zum Himmel hinauf und zieht mich mit. Hoch oben wirbelt der Nebel und einzelne Schneeflocken schweben über unseren Köpfen, so fein und kalt, dass sie auf der Haut schmerzen. Sie wirbeln durch meine Gedanken und ich fange an zu verstehen. Alles, was bis jetzt passiert ist und noch passieren wird. Alles, was Granny uns verschwiegen hat, vor dem sie uns zu schützen versucht hat. Ich sehe Legionen gefallener Engel, die eine Dunkelheit über die Welt bringen werden, die niemand mehr erhellen kann. Gott ist tot, flüstert es an meinem Ohr, aber es ist nicht Pius, der gesprochen hat. Es ist der Wind, der Schnee, der Nebel, Rag und der Atem des fremden Engels und mein eigener Herzschlag, der tief in meinem Inneren diese Worte gegen meinen Brustkorb klopft.
»Bald wird Gott tot sein«, sagt Pius, »und wir alle werden diesen Tag erleben dürfen. So nah ist er. So nah … so nah ist die Freiheit.«
Er sieht mich wieder an, Dunkelheit schwappt in seinen Augen, wie brackiges Wasser in einem schwarzen See. Ohne Ufer. Ohne Rettung.
»Pius, du kleines, pickeliges Arschloch«, zischt Indie neben mir, »ich frage mich schon lange, wieso sich deine Kumpels hier überhaupt mit dir abgeben. Was, zum Teufel, hat die geritten, als sie dich bei ihnen mitmachen ließen.«
8
Indie
I rgendetwas breitet sich
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