Dark Angels' Winter: Die Erfüllung (German Edition)
werde. Nicht jetzt. Nicht morgen. Nie wieder.
»Nec laudibus nec timore«, wiederhole ich jetzt laut und ich weiß, dass er es genauso versteht wie ich, obwohl ich meine, es zum ersten Mal zu hören.
Aber ich höre es nicht zum ersten Mal. Denn ich sehe einen grauen Stein vor mir, rund, von Flechten und Moos überwuchert, und es stehen genau diese Worte darauf. Sie sind eingehauen in diesen uralten Stein, umrunden ihn, sodass sich die Buchstaben wieder treffen. Und darüber steht in noch größeren Lettern: »Magnificat anima mea dominum«. Ich kenne ihn, weil ich Ernestine Spencers Enkelin bin. Und die Ururenkelin von Victoria Spencer. Denn es ist der Leitspruch des Ordens. Des Ordens, dem ich angehöre, dem wir angehören. Dawna und ich. Wir gehören zum Orden der Engelshüterinnen, so wie auch Granny und ihre Schwester zu dieser Dynastie gehört haben. Und auch die Großmütter davor. Bis zu unserem Tod.
Es gibt kein Zurück. Es gibt kein Aufgeben. Und es gibt ein Ziel.
Und ich werde es erreichen.
Auch wenn ich dafür sterben muss.
»Nec laudibus nec timore«, sage ich noch einmal, klar und deutlich. Weder durch Lobsprüche noch durch Einschüchterung.
Rags Körper spannt sich an, seine Gesichtszüge versteinern in einer hasserfüllten Fratze. Ich sehe, wie er seine rechte Faust ballt, und weiß, wen sie treffen wird. Und ich weiß, was ich auf jeden dieser Schläge erwidern werde und dass ich erst damit aufhören werde, wenn ich bewusstlos bin oder tot.
»Stopp«, sagt Dawna und stellt sich vor mich.
Ich weiß, was sie vorhat. Aber ich weiß, dass es ihr nicht gelingen wird. Er wird sie zur Seite schubsen, als wäre sie ein Nichts.
»Danke, Dawna«, sage ich und schiebe sie weg. Rag ist mein Schicksal und nicht deins.
Ein Geräusch an ihrer Seite lässt mich innehalten. Neben Dawna steht plötzlich ein Mann, drahtig und muskulös, die langen braunen Haare umrahmen sein markantes Gesicht mit dem dunklen Bartschatten. Seine Lederjacke ist an der rechten Schulter aufgerissen und eine Flüssigkeit hat das Leder dort dunkel gefärbt.
Blut.
Er beachtet uns nicht. Seine bernsteinfarbenen Augen sind auf Rag fixiert.
Dusk. Der Gedanke von Dawna ist atemlos, voller Gefühle.
Und auch ich werde plötzlich überschwemmt von einer ganzen Reihe von Gefühlen. Die Wölfe. Sie sind nicht alle tot. Und sie sind noch immer auf unserer Seite. Zumindest Dusk. Er wird alles versuchen, um Dawna zu schützen. Die zerfetzte Lederjacke macht mich unruhig. Ich habe den Eindruck, dass der Hass von Rag so sehr brennt, dass ihn keiner stoppen kann. Rag geht einen Schritt nach vorne und im nächsten Moment verwandelt sich Dusk in einer fließenden Bewegung in den Wolf, den ich kenne. Auch er geht auf Rag zu, seine Schritte sind steifbeinig und drohend, die weißen Zähne blitzen aggressiv auf. Jetzt erkennt man deutlich, dass er verwundet ist. Seine Schulter sieht aus, als hätte sie einen Hieb mit einem scharfen Messer abgekommen. Das Fell ist blutverklebt und seine Schritte sind nicht ganz so geschmeidig wie sonst.
»Dusk«, flüstert Dawna. Ich will dich nicht verlieren, denkt sie. Ich will dich nicht schon wieder verlieren.
Dusk scheint dies nicht zu bemerken, er umrundet Rag und auch der dreht sich. Wortlos. Man hört kein Wort, kein Knurren, nur die Schritte der schweren Biker Boots auf dem gefrorenen Boden. Ich weiß genau, was er vorhat. Er wirkt so, als würde er jeden Moment losspringen. Wenn er beim ersten Sprung die Kehle verfehlt, hat er verloren. Man sieht ihm an, dass er sich dessen bewusst ist. Er ist so konzentriert, dass er nichts um sich herum wahrnimmt. Dawna packt mich an der Hand, zieht mich ein Stück nach hinten.
Dusk hat keine Chance. Das muss auch Dawna klar sein. Er ist zu stark verwundet.
»Lass uns reingehen, Rag«, sagt Pius vorsichtig und weicht vor uns zurück. Er geht ein paar Schritte rückwärts, dann dreht er sich einfach um und geht.
Im nächsten Augenblick sehe ich wieder eine Bewegung neben mir. Es ist nicht nur Dusk, der auf unserer Seite kämpft. Mit einem gewaltigen Satz springt der Wüstenhund vor uns. Plötzlich fällt die Anspannung von mir ab. Die atemlose Stille ist vorbei. Das dumpfe Grollen, das aus seinem Brustkorb dringt, klingt Furcht einflößend und aggressiv. Er wird flankiert von Kalo und dem fremden dunklen Wolf. Rags Aggression nimmt aber nicht ab. Seine Augen verengen sich nur ein wenig.
Rag ist nicht irgendwer. Je mehr Gewalt auf ihn einstürmt, desto
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