Dark Angels' Winter: Die Erfüllung (German Edition)
wieder zurück. Vielleicht, weil es tatsächlich eine lange Reise war. Die drei Tage, in denen ich weder schlafen noch essen durfte, waren wie eine Geburt. Die Geburt meines Geistes, ein Schnelldurchlauf meines bisherigen Lebens, ein Reifen meines Körpers und meiner Seele. Drei Tage, in denen ich alle Empfindungen spürte, die ein Mensch fähig ist zu fühlen. Alles war überlagert von dem Gedanken an das Reinigungsritual, an das Gefühl, zu sterben und wiedergeboren zu werden.
Noch immer stehe ich mitten im Raum, obwohl Kat schon vor einigen Minuten gegangen ist. Noch eine halbe Stunde, sagte sie. Noch eine halbe Stunde wach sein, dann darfst du essen. Dann darfst du schlafen. Das Einzige, was du dir merken musst …ihre Stimme driftet ins Nirgendwo… du darfst mich nicht in meinem Gebet stören. Wenn meine Meditation durch dich unterbrochen wird, kann das schwere … Folgen … haben …
Ich starre auf die Kerzenflammen, die schon wieder seltsame Dinge tun, als wären es gar keine Kerzen, sondern Lebewesen. Das ist alles ganz normal, höre ich Kats flüsternde Stimme. Das ist der Schlafentzug. Du wirst es schaffen. Bewege dich nicht zu schnell, aber bewege dich. Ich habe es bald geschafft. In einer halben Stunde sind die drei Tage vorbei und ich darf essen und schlafen. Ich nehme noch einen kleinen Schluck von dem herben Getränk, das ich keinem einzigen Geschmack, den ich kenne, zuordnen kann. Der Brei, den ich bald essen darf, hätte mich misstrauisch gemacht, wenn ich nicht einen solchen Hunger hätte. Ich würde jetzt alles essen, was man mir vor die Nase stellt. Langsam streife ich einen zweiten Pullover über meinen Kopf, um irgendetwas gegen die Kälte zu machen, die mich seit der ersten durchwachten Nacht begleitet. Das Einzige, was für mich zählt, ist, dieser Prüfung standzuhalten. Nach dem Reinigungsritual gibt es nichts mehr, was mich aufhalten kann.
Um mich in der letzten halben Stunde noch wach zu halten, nehme ich Lilli-This Blatt in die Hand. Das eine mit den Cola-Spritzern, das ich schon zu lange angestarrt habe. In der halben Stunde, bis ich endlich schlafen darf, werde ich meine letzte verbliebene geistige Kraft dazu nutzen, mich auf dieses Blatt zu konzentrieren. Es kann nicht sein, dass es NICHTS aussagt. Nicht, wenn Lilli-Thi die Blätter zurückhaben will. Es muss mir einen Hinweis geben. Aber die letzten Tage waren ausgefüllt von meiner Körperlichkeit. Dem Gefühl des Hungers, dem Gefühl des Verlassenseins, der Wut, der Angst, der Hysterie. Ich wusste bis jetzt gar nicht, wie viele Arten von Gefühlen ich haben kann. Unendliche Trauer, überschäumende Fröhlichkeit, das Gefühl von Hoffnungslosigkeit, aber auch von glückseliger Hoffnung auf irgendetwas … Ich bin irrsinnig reizbar und froh, dass ich keinem Menschen aus unserem Haus begegnet bin. Es ist, als wären die anderen nicht existent.
Das Blatt von Lilli-Thi erfüllt mich mit einem schmerzhaften Hass. Kopfschmerzen direkt hinter meinen Augen kündigen eine erneute Halluzination an. Eine Farbsymphonie explodiert vor meinen Augen und es scheint mir, als wäre jeder Farbton eine eigene Note, es ist ein Orchester, ein Farborchester. Ich krümme mich nach vorne, versuche, die Augen zu schließen, kann es aber nicht. Verdammt. Verdammt. Verdammt.
Nach gefühlten Stunden klingen die Farben ab und ich höre nur einen dumpfen Ton in meinen Ohren, als wäre von dem Orchester ein einziger, einsamer Musiker übrig geblieben. Ich weiß, was jetzt kommt. In den letzten Tagen hatte ich zwei Halluzinationen. Danach war die Müdigkeit wie weggeblasen, mein Geist plötzlich so beweglich wie nie zuvor. Noch fünf Minuten. Noch fünf Minuten, dann darf ich essen und schlafen. Aber ich habe keinen Hunger mehr und meine Müdigkeit ist nur noch eine blasse Erinnerung. Das Blatt von Lilli-Thi liegt vor mir, der Cola-Spritzer scheint auf eine bestimmt Stelle zu weisen.
Auf ein einziges Koordinatenpaar. In diesem Moment durchströmt mich das Wissen, als hätte die Halluzination geistige Kräfte freigesetzt. Denn jetzt brauche ich nicht mehr nachzudenken. Ich weiß es einfach.
Whistling Wing.
Das sind die Koordinaten von Whistling Wing. Die, die ich auf dem Stein in den Katakomben gefunden habe. Mir ist es ein Rätsel, wieso ich nicht früher darauf gestoßen bin, wieso ich nicht gleich darüber nachgedacht habe, auf diesen Blättern nach den Koordinaten von Whistling Wing zu suchen. Natürlich.
Whistling Wing.
Und als wäre diese Erkenntnis
Weitere Kostenlose Bücher