Dark Angels' Winter: Die Erfüllung (German Edition)
sagt Miss Anderson leise.
Ich sehe sie überrascht an. »Was soll mit ihr sein?«
»Sie wird euch bei der Initiation begleiten müssen. Schafft sie das?«
Mir wird kurz schwarz vor Augen und ich stütze mich auf den Nähtisch, spüre das glatt geschliffene Holz unter meinen Händen. Langsam ertrage ich es nicht mehr, dass ständig neue Schwierigkeiten auftauchen.
»Die Mütter der Hüterinnen müssen anwesend sein. Es ist ein Wechselspiel. Genauso wie im Wechsel eine Generation Hüterinnen geboren wird. Dann eine Generation, die wieder Hüterinnen gebiert. Genauso wird die Kraft in der Initiation weitergegeben. Die Mütter erhalten die Kraft von der alten Hüterin und geben sie an die jungen weiter. So steht es geschrieben.«
Der Wind wirbelt den Schnee vom Dach der Scheune hinunter und über den Hof. Kurz ist alles nur noch weiß.
»Mum«, flüstere ich, »das schafft sie nicht.«
»Sie muss sich auch vorbereiten«, Miss Anderson ignoriert meinen Einwand einfach, »es gibt Gebete, Formeln …«
»Das schafft sie nicht«, unterbreche ich sie heftig.
Indie steht jetzt schwankend im Raum. Kat hält sie an der Hüfte fest. Als sie einigermaßen sicher steht, lässt Kat Indie los und entzündet Kerzen, die sie im Zimmer verteilt hat. Vor jeder Kerze berührt sie kurz den Boden und murmelt ein paar Worte. Unsere Unterhaltung scheint sie nicht zu stören.
»Außerdem tun wir so, als würde diese eine Person kommen. Ihr glaubt nicht daran. Wir glauben nicht daran. Und selbst wenn es sie gibt, muss man doch nur aus dem Fenster sehen, um zu kapieren, dass es nicht klappen kann.«
Miss Anderson zuckt mit den Schultern.
»Es hat schon größere Wunder gegeben«, sagt sie ruhig und öffnet ein Kästchen, das sie neben mich auf den Nähtisch gestellt hat. Es ist aus hellem Holz mit dunklerer Einlegearbeit. Ich erkenne das Zeichen der Les Fleurs und den lateinischen Spruch darum. Miss Anderson dreht das Kästchen so, dass ich den Inhalt nicht sehen kann, und ich blicke genervt aus dem Fenster. Blöde Geheimniskrämerei. Gehören wir nun dazu oder nicht?
»Noch nicht, Dawna«, sie holt ein kleines, ledergebundenes Büchlein hervor und reicht es mir, »gib das deiner Mutter. Bis zu eurer Initiation muss ihr der Inhalt vertraut sein. Sie muss die entscheidenden Passagen auswendig kennen. Mehr können wir nicht tun. Ernestine hätte auch ihre Tochter einweihen müssen. Ich weiß nicht, was sie sich dabei gedacht hat, es nicht zu tun.«
»Sie hat es ihr nicht zugetraut«, sage ich.
»Ja. Und was dabei herausgekommen ist, das kann jeder deutlich sehen.« Miss Anderson fasst ihr Haar im Nacken zusammen und steckt es gekonnt fest. »Eure Mutter spürt ihre Aufgabe. Und anstatt sich dieser zu widmen, verrennt sie sich in Nutzlosigkeiten. Es wird Zeit, dass sich das ändert. Deswegen geh jetzt hinunter und gib ihr das Buch. Gib ihr eine Chance.«
Wir sehen uns einige Sekunden fest in die Augen. Dann stehe ich auf und verlasse das Zimmer.
Ich schiebe das Büchlein in den Ärmel des Bademantels. So gehe ich die Treppen hinunter. Im ganzen Haus herrscht eine seltsame Ruhe, und als ich die Küche betrete, sitzen alle noch genauso da wie in dem Moment, in dem Miss Anderson, Indie und ich gegangen sind. Die Frauen halten sich an den Händen. Auf Eves Gesicht schwebt ein Lächeln.
»Ich weiß gar nicht, was vorhin in mich gefahren ist«, sagt sie und streckt sich dann behaglich, »ich fühle mich wie neugeboren.«
Leise schlüpfe ich durch die Tür hinüber zum Fenster und setze mich aufs Fensterbrett. Jetzt beginnen die anderen durcheinanderzureden. Eves Lachen perlt durch den Raum. Jetzt ist sie wieder wie vorher, wie im Sommer, als sie mit den anderen Engelssuchenden hier aufgetaucht war. Ich versuche, Mum zu fixieren. Sie sitzt zwischen Tara und Sidney, doch ich erwische ihren Blick nicht. Jemand dreht das Licht wieder an und Tamara pustet die Kerzen aus. Die Rauchfäden kräuseln sich zur Decke. Bald ist Weihnachten. Bald ist Wintersonnwende.
»Seht ihr«, sagt Mum gerade, »Kat ist gar nicht so übel. Sie wusste gleich, dass wir mit Miss Anderson nicht arbeiten können. Vielleicht ist ihre Energie gar nicht so schlecht, sondern nur …«, sie sucht nach Worten, »… zu stark für unsere Gruppe.«
Ich ziehe den Frotteestoff des Bademantels enger um mich. Hatte Granny wirklich geglaubt, Mum könnte kurz vor der Initiation all das lernen, was dafür wichtig war? Ich beobachte Mum, wie sie angeregt redet und mit den Armen
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