Dark Angels' Winter: Die Erfüllung (German Edition)
der letzte Tropfen, der das Fass füllt, sehe ich sofort, was die Zahlen vor den Koordinaten bedeuten. Es ist ein Datum. Es fehlen die Punkte, die zwischen dem Tag, dem Monat und dem Jahr stehen. 18 04 42. 18.04.1942.
Ein Datum. Ein Koordinatenpaar. Ein Koordinatenpaar. Ein Datum.
Mein Herz scheint langsamer zu werden. Die Kerzenflammen flackern nicht mehr. Mein Atem ist ein ruhiger Strom.
Ein Datum.
Der Tag eines Geburtstags.
Wie von selbst fügen sich die Puzzleteile aneinander. Geburtsdaten. Deswegen findet man auch so viele Krankenhäuser an genau diesen Koordinaten. Und auch das zweite Koordinatenpaar ist erstaunlich oft mit Krankenhäusern verknüpft. Nicht, weil es noch ein Geburtstag ist, sondern … ein Sterbetag. Natürlich. Der Anfang und das Ende eines Lebens. Manchmal auf der Straße beendet, in der Wildnis, im Krankenhaus. In einem Haus, weit weg vom Geburtsort oder ganz nah … Die Erkenntnis schmerzt, meine Finger fahren sacht über das Datum, das mit Whistling Wing verknüpft ist.
180442. 18. April 1942.
Granny.
Ich starre auf das Datum vor mir, kann mich plötzlich nicht mehr erinnern, wann sie Geburtstag hatte. Mein Blick wandert an das Ende der Zeile und wie ein Hammerschlag trifft mich die Erkenntnis. 211212. Der 21. Dezember. Der Tag unserer Initiation. Der Tag, der uns zu vollwertigen Hüterinnen, zu mächtigen Hüterinnen machen soll. Und gleichzeitig der Sterbetag einer Person, die hier auf Whistling Wing geboren wurde. Es muss Granny sein.
Ich bin so aufgeregt, dass mir Grannys Geburtstag partout nicht einfallen will. Vorsichtig falte ich das Blatt, so klein ich kann, und schiebe es in meine Hosentasche.
»Grannys Geburtstag?«, fragt Mum.
Sie sieht furchtbar genervt aus, fast genauso genervt wie die Comtesse, deren stechender Blick auf mir ruht.
»Das war doch… war das nicht … « Sie lächelt verlegen, gleichzeitig sieht sie suchend im Raum herum, als könnte es irgendwo auf einem Zettelchen aufgeschrieben stehen.
»Im Mai«, erklärt die Comtesse mit schneidender Stimme. »Am 21. Mai.«
Am 21. Mai 1941, richtig. Nicht im April.
»Sonst hast du keine Probleme?«, will sie in ätzendem Tonfall von mir wissen.
»Nein. Verfickte Scheiße. Nein. Das ist das einzige Problem, das ich gerade habe.« Was tut die Comtesse noch hier?
»Mädchen«, sagt Mum mahnend.
»Was hängen Sie denn hier noch ab?«, fahre ich die Comtesse an.
»Die Stromleitung, Schätzchen«, erklärt Mum. »Der Schnee. Der Strom …« Sie wirkt auch ein wenig entkräftet von der Situation, in der sie sich befindet.
»Gibt’s ja wohl nicht, wie lange die brauchen, um eine Stromleitung zu reparieren.«
»Indiana Spencer«, fährt mich die Comtesse genauso grimmig an.
»Indiana Spencer«, äffe ich sie ärgerlich nach.
»Mädchen«, sagt Mum noch einmal verzweifelt.
Mum stellt sich zwischen uns, sie packt mich mit beiden Händen an den Oberarmen und sieht mich an. »Was ist mit dir los? Hast du Fieber?«
Abrupt reiße ich mich von ihr los. »Ich frage mich mehr, was mit dir los ist, Mum. Wieso du nie eine Ahnung davon hast, was bei uns gerade so läuft. Wieso du nie eine Verbindung zu uns aufbauen kannst. Wieso du nie, aber auch niemals kapierst, was gerade wichtig wäre.«
»Weil ihr mir nichts erzählt«, sagt Mum hilflos. »Ich würde gerne alles für euch geben.«
Okay. Daran werde ich dich demnächst erinnern.
»Weil du nicht zuhörst«, widerspreche ich ihr und werfe der Comtesse einen drohenden Blick zu. »Weil du nicht zuhören willst. Weil du dich allem entziehst, was für dich mit Anstrengung verbunden wäre.«
Die Comtesse verschränkt die Arme vor ihrer Brust, ihre Lippen sind inzwischen nur noch ein Strich in ihrem Gesicht.
»Ich will zuhören«, sagt Mum, doch ihre Stimme klingt weinerlich.
Ich will gar nichts mehr wissen, denn was ich jetzt dringend brauche, ist ein Computer. Ich muss Koordinatenpaare überprüfen. Immer eine Stufe überspringend laufe ich hinauf in den ersten Stock in Mums Zimmer. Seltsamerweise bin ich sehr ruhig, als wäre alles um mich herum verlangsamt. Mums Rechner ist nicht ausgeschaltet. Ich berühre die Maus und der Bildschirmschoner verschwindet. Mum ist bei Facebook angemeldet. Ohne nachzusehen, was sie dort treibt, öffne ich Google Maps und tippe die Koordinaten ein.
Für einen kurzen Moment rattert der Computer, dann ist ein riesiges Waldgebiet zu sehen. Sulphur Springs, lese ich am Rand. Noch nie gehört. Ich zoome mich langsam aus dem Bild
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