Dark City 2 (Die Tränen des Lichts) (German Edition)
hören. Er war ihr durch Mark und Bein gegangen.
«Erinnerst du dich – die Hexenverbrennung vor sechs Tagen?»
Goran nickte. Natürlich erinnerte er sich daran. Er war es gewesen, der den Scheiterhaufen in Brand stecken durfte. Mit Isabellas Verbrennung hatte überhaupt alles begonnen, aus den Fugen zu geraten.
«Ich habe sie gehört, Vater. Ich habe ihren Schrei gehört.»
Goran runzelte die Stirn. «Wie meinst du das? Du warst Meilen vom Stadion entfernt. Meine Soldaten haben das Haus gefunden, in dem sie dich gefangen hielten. Es lag weit außerhalb der Stadt.»
«Ich weiß», bestätigte Katara. «Aber ich sage dir: Ich habe ihren Todesschrei gehört. Ich habe ihn nicht nur gehört, ich habe ihn gespürt, am ganzen Körper. Wir alle haben ihn gespürt. Es hat etwas in mir ausgelöst, Vater.»
«Was hat es ausgelöst? Dass du von einem Moment auf den andern alles vergessen hast, was ich dich gelehrt habe?»
«Nein, Vater. Nicht vergessen – sondern verstanden. Du hast mich gelehrt, was es bedeutet, sich für etwas einzusetzen, das größer ist als man selbst. Du hast mich gelehrt, was das Wort Aufopferung bedeutet. Aufopferung für das, woran man glaubt: für Dark City, für unser Volk, für unser Land.»
«Für unsern König», ergänzte Goran.
«Ja, für unsern König», nickte Katara. «In diesem einen Augenblick, Vater, als Isabella diesen Namen ausrief … Es schien auf einmal alles Sinn zu ergeben.»
«Die Lügen, die dir die Hexe auftischte?»
«Mein Leben, Vater. Ich spürte auf einmal, dass da noch mehr ist, dass ich Teil von etwas Besonderem bin, etwas Großem. Es war, als hätte ich etwas in mir entdeckt, von dem ich nicht einmal wusste, dass es existierte; eine Sehnsucht, den Drang, etwas aus meinem Leben zu machen, etwas, das von Bedeutung ist, etwas, das den Unterschied ausmacht zwischen einem durchschnittlichen Leben – und einem herausragenden.»
«Dein Leben ist herausragend, Katara. Du bist die Tochter des ersten schwarzen Ritters. Du hast ein Leben, von dem andere nur träumen können.»
«Darum geht es nicht, Vater.»
«Worum geht es dann?»
«Um mich», sagte Katara und klopfte sich mit der Faust an die Brust, «es geht darum, wer ich wirklich bin, ohne mein Schwert, ohne deinen Schutz, nur ich, Katara. Verstehst du, was ich meine?»
«Nein.» Goran schüttelte stirnrunzelnd den Kopf. «Ich verstehe nicht.»
Katara seufzte. Sie biss sich auf die Unterlippe und drehte das Glas zwischen den Fingern. So gerne hätte sie mit ihrem Vater über alles geredet, hätte ihm gesagt, wie verwirrt sie manchmal war, nicht nur über die Ereignisse der vergangenen Tage, sondern über sich selbst. Es gab da nämlich ein paar Dinge, von denen er nichts wusste. Er wusste zum Beispiel nicht, dass es ihr möglich war, in absoluter Dunkelheit zu sehen. Sie hatte ihm auch nie gesagt, dass es ihr möglich war, durch den dichtesten Nebel zu sehen, und das gestochen scharf und über weite Distanzen hinweg. Und in letzter Zeit hatte zudem ihre Gelenkigkeit ein Ausmaß erreicht, das eindeutig nicht mehr auf ihr Kampftraining zurückzuführen war.
Aber all diese Dinge hatte sie bisher vor ihrem Vater verheimlicht. Sie wollte nicht, dass er dachte, seine eigene Tochter wäre eine Hexe. Denn nur Hexen verfügten über solch spezielle Gaben, die man sich nicht erklären konnte. Das wusste jeder. Und so hatte Katara all die Jahre darüber geschwiegen. Niemand sollte jemals erfahren, dass sie anders war, nicht einmal ihr Vater. Doch dann hatte sie diese Jugendlichen getroffen und gesehen, dass sie nicht die Einzige mit verborgenen Talenten war. Und zum ersten Mal hatte sie den Gedanken zugelassen, dass ihre Gabe vielleicht doch kein Fluch war – sondern ein Segen.
«Katara, diese Hexe hat dir den Kopf verdreht», holte sie ihr Vater aus ihrer Gedankenwelt. «Was ist es, das dich so durcheinandergebracht hat?»
«Ich weiß es nicht. Ich … ich kann es nicht erklären. Alles, was diese alte Frau an diesem Morgen sagte, war so einleuchtend. Die Geschichte Shaírias, das Buch der Prophetie, die uralte Prophezeiung, die sich durch uns erfüllen sollte. Sie wusste Dinge von mir, die niemand sonst wissen konnte. Sie wusste, dass du mich kleine Feuerblume nennst. Sie wusste, dass ich in der Nacht vor ihrer Hinrichtung bei Isabella im Kerker war. Sie wusste sogar, was Isabella mir …»
Sie sprach den Satz nicht zu Ende. Es fröstelte sie, wenn sie an die furchtbare Begegnung dort im Dunkeln zurückdachte.
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