DARK MISSION - Fegefeuer
Dunkelheit, zusammengekauert und mit steifen Gliedern. »Der Fahrer hat uns auf einer der unteren Ebenen abgesetzt, und das war’s. Ganz abgesehen davon«, fuhr sie dann mit einem ironischen Kopfschütteln fort, »führen die Straßen hier unten nicht an den Katakomben vorbei. Wahrscheinlich ’ne gute Idee.«
Silas lächelte nicht. »Wie alt warst du da?«
»Fünfzehn.«
»Himmel, du warst ja noch ein halbes Kind!«
Nein. Ein Kind war sie nie gewesen. Ihr Blick war hart, unnachgiebig. »Wir waren schon eine ganze Weile auf uns allein gestellt, danke der Nachfrage. Wir sind prima zurechtgekommen.«
Der Blick, den er ihr von der Seite zuwarf, hatte etwas Stechendes. »Prima zurechtgekommen, aha! Einer von euch beiden ist Mitglied eines Kultes, der bestialisch Leute umbringt, und die andere hat es an der Backe, hinter ihm aufzuräumen.«
Mit einem Mal waren Jessies Wangen ganz heiß. Wie ein Peitschenhieb traf sie die eigene Wut und machte sie stumm. Sie wandte das Gesicht ab, blickte wieder zum Beifahrerfenster hinaus und schwieg hartnäckig.
Sie wusste genau, dass Silas recht hatte. Jessie könnte drumherum reden und lügen und Gewese machen, so viel sie wollte: Der Hexenjäger hatte verdammt noch mal recht. Vielleicht war es ja tatsächlich ihre Schuld, dass Caleb jetzt in der Scheiße saß. Vielleicht hätten sie irgendwo bleiben sollen, wo es schön ruhig und beschaulich war. Irgendwo in einer der Gemeinden weit draußen auf dem Land, wo das Leben einfacher war. Dort hätten sie vielleicht ein ganz normales Leben führen können.
Hätten Freunde gehabt. Freundinnen. Wären zur Schule gegangen.
Doch der kühl kalkulierende, rationale Teil von Jessies Verstand bestand darauf, dass sie alles richtig gemacht hatte. Ihre Mutter war umgebracht worden. Okay, vielleicht hatte Caleb es nicht gesehen. Vielleicht hatte er sich verstecken können, ehe die Mörder Lydia allein und ohne jeglichen Schutz in ihrem gemütlichen ländlichen Heim angetroffen hatten. Aber genau wusste es Jessie nicht. Jeden Tag seitdem fragte sie sich, ob der zwölfjährige Caleb nicht vielleicht doch Zeuge geworden war, wie ihrer beider Mutter starb. Vielleicht hatte er immer schon gewusst, warum die Gabe der Mutter, in die Zukunft schauen zu können, nach ihrem Tod in ihn hineingefahren und in ihm aufgeblüht war.
Vielleicht war das der Grund dafür, dass er ein so ernstes, wütendes Kind geworden war.
Oder vielleicht hatte einfach nur die Fähigkeit, in die Zukunft zu sehen, ihn so werden lassen.
Jenseits des Beifahrerfensters war es immer dunkler geworden, mit jedem Meter, den sie tiefer in die Unterstadt vordrangen. Jetzt waren die Scheinwerferkegel des Pick-ups und gelegentlich auftauchende brennende Abfalltonnen das einzige Licht. Jessie gab sich große Mühe, irgendwo Menschen zu entdecken, während sie aus dem Fenster stierte. Doch niemand hockte um die brennenden Fässer herum, nirgendwo bewegten sich Schatten, und es gab keine Kinder, die irgendwo spielten. Silas drosselte das Tempo des Pick-ups, um den schweren Wagen um Schutthaufen herumzulenken, die überall verstreut lagen. Jessie wusste, dass die Menschen, die in diesen heruntergekommenen Straßen ihr Leben fristeten, kaum eine Handbreit von der Hölle trennte.
Allein schon der Gedanke traf Jessie mitten ins Herz.
Die Stadt hatte sich viel Mühe gegeben, das vielfach gebrochene, in sich verbogene Skelett des alten Straßensystems, die innerstädtischenSchnellstraßen und die Auf- und Abfahrten dazu, abzuriegeln. Aber Zeit und Elemente hatten ihren Tribut gefordert. Einst hatten große, in die Straßendecke eingelassene Betonblöcke verhindern sollen, dass Fahrzeuge wie Silas’ Truck in die Katakomben hineinfuhren. Diese Blöcke jedoch waren längst verwittert, gesprungen, zerbröckelt oder von Besuchern beiseitegeschafft worden, die einen verzweifelt, die anderen einfach nur neugierig.
Hinter den Zwillingskegeln der Pick-up-Scheinwerfer verschluckte Dunkelheit die Straße, und die Dunkelheit war so undurchdringlich, dass sie zu atmen schien wie ein riesiges Biest auf der Lauer.
»Bist du so weit?«
Jessie rieb sich mit der einen Hand über das Brustbein. Ihre Stimme klang dumpf, als sie sagte: »Ich verstehe nicht, warum ein Ort wie der hier nicht so gesichert ist, dass niemand hier so einfach hineinspazieren kann.«
»So einfach nun auch wieder nicht«, erwiderte Silas und machte eine Kopfbewegung in Richtung Windschutzscheibe. Jessie beugte sich vor. Mit
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