DARK MISSION - Fegefeuer
einzige Stadt, die ausgelöscht wurde.«
»Seattle ist die einzige Stadt, die als Antwort auf Mutter Natur hoch und höher hinauf in den Himmel gebaut hat«, erwiderte Jessie trocken. »Ein paar inbrünstig fromme Worte, eine Prise fanatischer religiöser Eifer, und schon bauen sie eine neue Stadt auf den Ruinen der alten, überbrücken den Graben mit ihrer Neuschöpfung, als wäre er nichts als ein Schlagloch.« Jessie hob den Blick hinauf zu den schlanken Gebäuden, die in den Himmel ragten wie glitzernde Speere. »Schöner, besser und sicherer gebaut und natürlich mit noch mehr Glas.«
Andere Städte hatte in dieser schrecklichen Zeit die Erde verschlungen. Sie waren weggeschwemmt oder hinweggefegt worden, waren niedergebrannt. Ohne erkennbaren Grund war alles aus den Fugen geraten und ins Chaos gestürzt.
Religiöser Eifer reichte als Beschreibung nicht mal aus.
Jessie schloss die Augen. Fünfzig Jahre waren keine Ewigkeit, eher im Gegenteil. Jessies Mutter hatte von einer alten Hexe erzählt, die die Unwetter überlebt hatte, die Paris von der Landkarte getilgt hatten. Ob Jessie selbst so viele Jahre, nur auf sich gestellt, würde überleben können?
Wollte sie das überhaupt?
Silas grunzte. »Der Graben, der ist was? Vielleicht anderthalb Kilometer breit, an der breitesten Stelle, oder nicht?«
Jessie machte die Augen auf. »Keine Ahnung. Vielleicht, ja. Aber tief ist er, verdammt tief.« Tief genug, um damals die halbe Stadt auf Nimmerwiedersehen zu verschlingen. Ein riesiges, finsteres Grab. »Mir war nie danach, mich dort umzusehen.«
»Klar, verdammt! Man hat die Ruinen ja nicht ohne Grund abgeriegelt und versiegelt.« Mit gerunzelter Stirn warf Silas einen Blick in den Rückspiegel. »Noch vor vierzehn Jahren war die Unterstadt eine Todeszone. Instabile Straßendecken, Erdfälle in der Nähe des Grabens,immer wieder unerklärliche seismische Aktivität. Himmel, die haben die Hälfte aller Aufklärer-Drohnen verloren, die sie den Graben runtergeschickt haben!«
Jessie senkte den Blick, starrte auf ihre Hände. Verdammt noch mal! Der Jäger klang, als wäre er ein cleverer Bursche. Jessie biss sich auf die Lippe. »Die Stadt ist wie eine überdimensionierte Schichttorte aus Metall und Glas. Meinen Sie wirklich, die haben das nicht vorher geprüft? Dass es sicher ist, obendrauf zu bauen, meine ich.«
»Sollte man meinen, nicht wahr?« Er grinste kläglich. Es war ein schiefes Grinsen von bitterer Süße, sodass Jessies Herz plötzlich losgaloppierte. Sie ballte die Fäuste. »Nach dem, was ich gehört habe, haben die einfach ein paar tausend Stützträger darübergelegt, das Ganze asphaltiert und dann für in Ordnung erklärt.«
Silas’ männlich tiefe Stimme ging Jessie viel zu schnell und viel zu tief unter die Haut. So schnell konnte sie die Deckung gar nicht hochziehen. Da war sie nun, diese Stimme, und pendelte sich irgendwo zwischen sanft und vertrauensvoll ein. Jessie schürzte die Lippen und versuchte herauszufinden, warum. Warum war ihre erste instinktgesteuerte Reaktion, Silas Smith zu vertrauen? Und das, wo sie doch ganz genau wusste, dass er sie am Ende töten würde und Caleb erst recht!
Vielleicht bin ich’s einfach nur leid, immer auf der Flucht zu sein, überlegte sie.
»Tja, hat ja funktioniert irgendwie.« Jessie hob den Blick und sah am Beifahrerfenster die baufälligen, schmutzigbraunen Wände eines Tunnels vorbeiziehen. »Ich hatte geglaubt, ich bekomme das Ganze zu sehen. Damals, als Caleb und ich über die Zubringertrasse hierherkamen. Ich war ziemlich enttäuscht, als nichts daraus wurde.«
»Warum?«
Rasch warf sie ihm einen Seitenblick zu. Silas konzentrierte sich ganz auf die Straße. Der Pick-up wurde langsamer. Jessie folgte Silas’ Blick und erkannte Trümmer auf dem Asphalt, dessen Zustand sich schon deutlich verschlechtert hatte. Niemand kümmerte der Zustand der Straßen hier unten, nicht mehr.
Jessie schüttelte den Kopf, war es leid zu lügen. Hörbar atmete sie aus. »Also, zuerst einmal hatte der Transporter keine Fenster«, sagte sie dann. »Caleb und ich steckten in zwei Kisten, das war unser Versteck. Eine Lieferung für einen Laden in einem der oberen Stadtteile.«
Silas furchte die Stirn. »Kisten? Ihr zwei habt in luftdicht verschlossenen Transportkisten gesteckt?«
»Richtig.« Jessie machte keine Anstalten, das Bild farbiger zu gestalten. Sie wollte es einfach nicht. Es waren die längsten vier Stunden ihres Lebens gewesen, in absoluter
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