DARK MISSION - Fegefeuer
Jahren immer und immer wieder geregnet. Das Wasser musste irgendwo abgeflossen sein.
Der Gedanke bot wenig Trost, als Jessie mit Silas durch das Labyrinth der Unterstadt zog. Misstrauisch beäugte Jessie jede baufällige Mauer, jedes Gebäudeskelett mit seinen fensterlosen Augen.
Die Magie war Jessies Wegweiser.
Schließlich deutete Jessie eine Seitenstraße hinunter. Zumindest war dies schon eine Nebenstraße gewesen, ehe alle Straßen der Unterstadt zu nichts anderem als Nebenstraßen verkommen waren. »Das müsste die richtige Straße sein. Glaube ich.«
Wortlos griff Silas in seine Jacke und holte eine zierliche Stablampe hervor, nicht größer als ein Stift. Ihr kräftiges Licht durchschnitt die künstliche Nacht wie eine Messerschneide. »Bleib direkt hinter mir, okay?«
Jetzt ging er voran. Er war schon an Jessie vorbei, ehe sie den Fuß zum ersten Schritt gehoben hatte. Sie starrte Silas’ Rücken an. »Erwarten Sie irgendwelchen Ärger?«
»Immer.«
Die lakonische Erwiderung nahm Jessie den Wind aus den Segeln. Immer, echt? Wie … traurig!
Und wie vertraut.
Jessie richtete die Taschenlampe auf die Straße zu ihren Füßen, die trügerische Sicherheit vorgaukelte, und folgte Silas schweigend. Immer wieder musste sie sich Regen aus den Augen blinzeln. Silas suchte sich mit großer Umsicht seinen Weg über den immer wieder geborstenen, von tiefen Rissen durchzogenen und vielfach aufgeworfenen Straßenbelag. Als Silas über einen ganzen Hügel aus Asphalt und Erdreich stieg, warnte er: »Vorsicht hier!«, und war schon daran vorbei.
Jessie blinzelte den Hügel an. Sie runzelte die Stirn. Ohne Vorwarnung setzte sich das Bild in ihrem Gehirn zusammen. »Oh!«, hauchte sie und ging in die Hocke, um mit der Hand über den Hügel zu streichen. Etwas Weiches, Grünes kitzelte am stumpfen Rand aus geborstenem Bitumen ihre Handfläche.
Die Natur eroberte sich die vergessene Stadt zurück. Jessie brauchte die Wurzeln nicht zu sehen, um zu wissen, dass sie überall in dem Hügel zu finden wären. Wurzeln, Moos und bröckelnder Stein. »Wow!«, flüsterte sie. Sie fand keine Worte, um die Freude und das Erstaunen auszudrücken, die sie darüber empfand. Die Freude schlüpfte unter ihre Müdigkeit, und ihre Wut und wuchs und gedieh.
Es gab Hoffnung, erste, lebendige Hoffnung.
»Was hast du entdeckt?«, rief Silas aus der Dunkelheit vor ihr. Seine Stimme prallte von nassem Stein und verrottendem Bauholz ab; sie klang seltsam schaurig, unwirklich.
Jessie hob den Kopf, blinzelte rasch. Energisch rief sie sich zur Ordnung und konzentrierte sich wieder auf den Grund ihres Hierseins. »Nichts!«, log sie. Silas würde es ja sowieso nicht verstehen. Sanft strich sie noch einmal über das erste Grün, den ersten lebenden Hügel in der Ruinenstadt, stieg darüber hinweg und beeilte sich, zu Silas aufzuholen.
Dieses Mal packte die Magie sie bei der Kehle. Ihr Bewusstsein zersplitterte in einem Schrapnellhagel, der in alle Richtungen flog. Viel zu viele Bilder gleichzeitig stürzten auf Jessie ein, sodass sie nicht eines davon erkennen konnte. Dann plötzlich loderten Jessies eigene magische Kräfte auf, umschlangen ihr Bewusstsein und zwirbelten alle Eindrücke und Bilder zu einem einzigen Faden zusammen. Die Energiespur verblasste allerdings rasch, wurde schwächer und schwächer, bis sie für Jessie in der realen Welt, die von allen Seiten auf sie einstürmte, kaum noch auszumachen war.
Regen, Stahl, Stille.
Da!
Heftig schüttelte Jessie den Kopf und berührte eine Tür gleich neben sich. »Caleb«, flüsterte sie. Ohne auch nur einen Moment zu zögern, aber mit angehaltenem Atem, drückte sie mit der Hand kräftig gegen die halb verrottete Tür.
Holz brach; es trieb Jessie Splitter in die Hand. Augenblicklich sickerte Wasser in die Lücke im Holz. Jessie warf sich mit der Schulter gegen den geborstenen Türrahmen, biss die Zähne zusammen und drückte mit dem ganzen Gewicht ihres Körpers gegen die Tür.
KAPITEL 7
Die verrottete Tür gab nach. Jessie stolperte in einen winzigen Raum. Staub und faulige Gerüche schwängerten die Luft, umhüllten Jessie wie ein dünner Nebelschleier. Sie hustete bereits, kaum dass sie in den von Menschen und Gott vergessenen Ort hineingetaumelt war, so scheußlich war der Geruch. Der Gestank von Moder und Verwesung.
Jessie atmete durch den Mund, musste niesen. Sie hielt sich beide Hände über die Nase. Ihre Augen tränten.
Draußen hörte sie Silas ihren Namen rufen. Das
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