DARK MISSION - Fegefeuer
klebrige Gelatine. Bei jedem Schritt schmatzte der Teppich unter den Sohlen ihrer Stiefel. Vorsichtig umrundete sie diegrauenvolle Szene und wischte sich verstohlen die Tränen aus den Augen.
»Jessie?«
»Was?«
Silas hockte neben der Leiche, neben der aufgedunsenen Masse toter Mensch mit gespreizten Armen und Beinen. Der Jäger betrachtete sie, begutachtete sie genauestens, ruhig, mit ausdruckslosem Gesicht. Jessie spürte Mitgefühl in sich aufkeimen für den Mann, dessen Leben so hart gewesen war, dass er einen scheußlichen Anblick wie diesen ertragen konnte, ohne auch nur im Geringsten die Fassung zu verlieren. Ruhig und unerschütterlich.
Mit zitternden Fingern fuhr sich Jessie durchs Haar. Sie fixierte den Knoten, zu dem sie es geschlungen hatte, weil … ach verdammt, weil sie sonst mit ihren Händen nichts anzufangen wusste. »Ich sehe gar nichts …« … was nicht ins Bild passt klang unglaublich deplatziert. Sie schüttelte den Kopf. »Ich vermute mal, es ist …«
»Das ist nicht dein Bruder«, sagte Silas bestimmt. »Es ist eine Frau.«
Erleichterung kämpfte gegen blankes Entsetzen. Ungeheure Schuldgefühle. »Wie lange ist sie …?«
»Keine Ahnung.« Silas verzog das Gesicht. »Kannst du Proben nehmen?«
Ihr Verstand weigerte sich. Jessie verspannte sich, hob aber aufmüpfig das Kinn. »Wovon?«
»Von dem Blut hier.« Silas griff in seine Jackentasche und holte einen kleinen Plastikzylinder heraus. »Je eine Probe aus jeder Himmelsrichtung. Ich decke das ab.«
Er warf Jessie den Zylinder zu. Es rappelte darin, als sie ihn mit der freien Hand auffing. Was hatte er gesagt: das . Nicht ein menschliches Wesen mit Würde, eine Sie, sondern nichts als ein Haufen toter Mensch.
Wie benommen stierte Jessie den Zylinder in ihrer Hand an.
»Zieh den Stopfen obendrauf heraus!«, erklärte Silas ihr. SeineStimme war ruhig, gelassen, geduldig. »Es sollte ein Viererpaket Abstrichbesteck darin sein, vier einzeln verpackte sterile Wattestäbchen in ihren Röhrchen. Nimm mit jedem Stäbchen eine Probe und steck es danach in das jeweilige Röhrchen zurück! Und dann zustöpseln.«
»Okay.« Kein Problem. Das würde sie hinbekommen. Jessie würde funktionieren und die Ruhe selbst sein. Sie wandte sich ihrer Aufgabe zu und wanderte in einem Kreis um die Leiche. Sie versuchte, nicht daran zu denken, in wie viel Blut sie gerade trat. Die Leiche … die Frau musste verblutet sein. Ausgeblutet.
Jessie konnte sich nicht vorstellen, dass jemand so viel Blut verlor und noch lange am Leben blieb.
Jessie hockte sich hin, nahm das erste Stäbchen heraus.
Wo bist du, Caleb?
Warum hatte die Magie sie hierher geführt? Diese Leiche war nicht ihr Bruder, und Jessie war unglaublich erleichtert darüber. Aber warum war sie hier?
Jessie dreht das Stäbchen in der angetrockneten, Ekel erregenden Flüssigkeit. Rasch versenkte sie es wieder in seinem sterilen Röhrchen und drehte es zu. Sie wollte fertig sein, ehe der kalte Schauer, der ihr den Rücken hinunterlief, sie dazu brächte, es in einem Anfall von Hysterie in hohem Bogen von sich zu werfen. »Nummer eins erledigt«, meldete sie und war stolz darauf, dass ihre Stimme kaum bebte.
»Gut«, lobte Silas sie, ohne den Blick zu heben und Jessie anzuschauen. Er bewegte die Leiche, und schützte seine Hände mit einem Taschentuch. »Wahrscheinlich verlangte dieses Ritual Blut zum Fokussieren.«
Ach ja? als Antwort klänge viel zu rotzig. Stattdessen lächelte Jessie matt und ging um Silas herum, um die restlichen Proben zu nehmen. Sie hockte sich an der nächsten Stelle nieder, drehte das Stäbchen im Blut. Plötzlich runzelte sie die Stirn. Gold schimmerte im gedämpften Licht der Taschenlampe.
War das eine Spur? Jessie streckte die Hand danach aus, zögerte dann, blickte zu Silas hinüber.
Er beachtete sie nicht. Er war viel zu sehr mit der zerschmetterten sterblichen Hülle vor sich auf dem Boden beschäftigt.
Gold. Mit Blut besudeltes Gold.
Ach Scheiße! Jessie tauchte ihre Finger in den See aus kalter, zähflüssiger Blutmatsche und beachtete den Schauer nicht, der einmal von Kopf bis Fuß ihren ganzen Körper erbeben ließ. Sie schluckte die aufsteigende Übelkeit hinunter, den Ekel und brauchte dafür jedes bisschen ihrer noch vorhandenen Willenskraft.
Sie musste es wissen. Sie musste alles in Erfahrung bringen, was nur ging.
Metall, ja, mit rötlichem Glanz unter der angetrockneten, obersten Schicht, die es verbarg. Echtes Gold? Jessie bezweifelte
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