Dark Moon
diesen Kapiteln gab es keinerlei Anmerkungen oder Markierunge n, doch das änderte sich zum Ende des Buches hin . Kaum hatte ich das letzte Kapitel aufgeschlagen, begann ich so sehr zu frieren, dass ich mir schließlich eine Jacke holen musste. Vor meinem Fenster schwankten die Baumwipfel, der Wind hatte gedreht. Graue Wolken rasten über den Himmel. Ich musste aufstehen und das Licht einschalten.
Angeblich hatte ein Gott den »Schatten« erschaffen. Die Squamish hatten keinen Namen für ihn, bei den Hopi hieß er Masau. Dieser Masau, ein Riese, war der Gott der Erde und des Todes und zeigte sich den Menschen nur in einer blutverschmierten Maske. Die Legende berichtete, dass Masau eines Tages all das Leid und den Tod, die er über Mensch und Tier brachte, nicht mehr ertragen konnte und sich deshalb dem Leben zuwandte. Also suchte er sich eine Menschenfrau, um mit ihr möglichst viele Kinder zu zeugen. Masau wollte ein guter Gott sei n – einer, vor dem man keine Angst haben musste. Niemand sollte mehr durch ihn sterben. Nun, irgendwie lief die Sache gründlich schief. Die Frau, die er sich ausgesucht hatte, bekam keine Kinder. Doch er konnte warten. Seine Geduld war so groß wie seine Liebe zu ihr. Und diese Liebe machte ihn blind, denn er bemerkte nicht, dass sie nicht erwidert wurde. So ist das wohl mit Göttern. In manchen Dingen unterscheiden sie sich nicht im Geringsten von den Menschen. Sie sind viel unterwegs, weil sie einen anspruchsvollen Job haben, und wundern sich, wenn die Frau in der Zwischenzeit was mit dem Briefträger hat. Masaus Frau wurde tatsächlich irgendwann schwanger, aber nicht von ihm. Sie bekam eine Tochter, der sie den Namen »Sonnenvogel« gab.
Die Untreue seiner Frau blieb Masau natürlich nicht lange verborgen. Der Gott fühlte sich vom Leben verraten und tötete den menschlichen Rivalen auf eine ziemlich unappetitliche Weise. Er verfluchte die Tochter, die aus der ehebrecherischen Verbindung hervorgegangen war, und raubte ihr den Namen und damit auch ihr Menschsein. Fortan sollte sie »Nachtrabe« heißen und dazu verdammt sein, erfüllt von einem unstillbaren Durst nach Leben im Zwielicht des Schattens zu wandeln. Seiner Frau raubte Masau zur Strafe den Verstand. Noch heute soll sie auf der Suche nach ihrem Kind durch die nördlichen Wälder ziehen. In stürmischen Nächten, so heißt es, könne man ihr Wehklagen hören.
Kein Wunder, dass mir Grandma diese Sage nicht erzählt hatte, dachte ich, als ich das Buch zuschlug. Da hätte ich als Kind sicher keine Nacht mehr ein Auge zugetan. Warum aber war Emilia so fasziniert davon gewesen, dass sie überall unleserliche Bemerkungen an den Rand gekritzelt hatte? Immer wieder tauchte das Kürzel »JV« auf, aber ich konnte mir keinen Reim darauf machen.
M s Dupont rief an diesem Abend nicht mehr an, sondern Mark. Einen zweiten Kellerschlüssel hatten sie beide nicht gefunden, aber dafür waren die Verhandlungen seiner Mutter mit der Bank erfolgreich gewesen. Fürs Wochenende lud sie uns beide zu dem Italiener am Marine Drive ein, wo Emilia für uns die Pizza bestellt hatte. Durch diese Einladung kam mir auf einmal wieder der Mann in den Sinn, den ich zusammen mit Emilia am Strand gesehen hatte: das schwarze Haar, die hochgewachsene, schlanke Gestalt, die Hingabe, mit der Emilia ihn geküsst hatte. Jetzt war sie tot und ihr geheimnisvoller Liebhaber verschwunden.
Kapitel
R andolph Merger musste wegen Vincent tatsächlich bei der Polizei gewesen sein. Sonst wäre der zweite Tierkadaver, den man am frühen Morgen im Klootchman Park gefunden hatte, keine Meldung in den Lokalnachrichten wert gewesen. Auch diesem Hund hatte jemand erst das Genick gebrochen und dann die Kehle durchgeschnitten. Doch im Gegensatz zu Vincent war das Opfer kein harmloser Golden Retriever, sondern ein scharf gemachter American Pitbull. Er hatte, so viel verriet die Beschriftung seines Halsbands, auf den schönen Namen Bruno gehört und war ein Prachtexemplar seiner Art gewesen. Wer immer sich an ihm vergriffen hatte, war bestimmt kein Schwächling gewesen. Es war anzunehmen, dass sich Bruno heftig gegen den Angreifer gewehrt hatte. Der Hundehasser musste also mindestens leicht, wenn nicht sogar schwer verletzt sein. Aber die Situation am Fundort war haargenau wie bei dem Reh, das Mark und ich entdeckt hatten: nirgendwo Blutspuren. Und wie der arme Vincent hatte auch Bruno beinahe keinen Tropfen Blut mehr im Leib gehabt.
Die mysteriösen Tiermorde trugen dazu bei,
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