Dark Moon
Pfiff aus. »Hier sind mehrere Pässe, jeder auf einen anderen Namen ausgestellt.« Er hielt einen Ausweis hoch, der angeblich einer Martha Hayward gehören sollte. Das Foto zeigte jedoch eindeutig Emilia Frazetta im Alter von etwa dreißig Jahren.
»Gut«, sagte Mom. »Ich rufe die Polizei an. Die sollen sich um alles kümmern.«
»Aber warum hat sie diese falschen Identitäten angenommen?«, fragte ich. In meinem Kopf drehte sich noch immer alles.
»Vielleicht war sie eine Betrügerin?«, sagte Mom. »Das Haus hat sie auf einen Schlag bezahlt, so was macht doch niemand.«
»Ist sie etwa mit einem Geldkoffer beim Notar aufgetaucht?«
»Nein, das Geld wurde überwiesen«, sagte Mark. »Aber sie musste keinen Kredit aufnehmen.«
»Das macht sie noch lange nicht zu einer Kriminellen«, entfuhr es mir. »Vielleicht wurde sie von jemandem bedroht und war deshalb auf der Flucht!«
»Natürlich war sie auf der Flucht«, sagte Mark. »Und zwar vor der Polizei.«
Ich runzelte die Stirn. Emilias merkwürdiges Versteckspiel ließ tatsächlich keinen anderen Schluss zu.
»Ich glaube, Mark hat Recht. Wir sollten auf jeden Fall die Polizei verständigen«, sagte meine Mutter mit belegter Stimme. Sie hatte gerade einen länglichen Koffer geöffnet. Erschrocken wich sie zurück. Ich kannte mich nicht mit Waffen aus, aber ich hatte genug Filme gesehen, um ein Gewehr zu erkennen, das wie das Werkzeug eines Killers aussah. Die Waffe war mattschwarz, hatte ein großes Zielfernrohr und einen ungewöhnlich breiten Lauf.
Mein Verstand sagte mir, dass Mark und meine Mutter absolut Recht hatten. Wir durften nicht riskieren, uns zu den Komplizen einer mutmaßlichen Verbrecherin zu machen. Und dennoch hatte ich das Gefühl, dass es ein Fehler wäre, Emilias Geheimnis an die Polizei zu verraten.
Mom verständigte noch am selben Nachmittag die RCMP. Am frühen Abend kamen zwei Männer in einem Streifenwagen, um das Gewehr und die Kisten mit den Unterlagen zu beschlagnahmen. Beim Anblick der Pässe nickten sie anerkennend. Offenbar waren die Papiere so gut gefälscht, dass sie sich mit bloßem Auge von einem echten Ausweisdokument nicht unterscheiden ließen. Auf Moms Frage, was als Nächstes geschähe, antwortete einer der Officer: Man werde versuchen herauszufinden, ob mit der Waffe Straftaten begangen worden seien und in welchem Zusammenhang diese mit Emilia Frazetta stünden. Anklage werde jedenfalls nicht erhoben, da die Frau ja wenige Tage zuvor verstorben war. Auf diese Weise bekam die anstehende Beerdigung einen schalen Beigeschmack.
Kapitel
D ie Beisetzung war für den nächsten Tag auf dem Capilano View Cemetary angesetzt. Da wir nicht wussten, welcher Religion oder Konfession Emilia Frazetta angehört hatte, hatte Mom einen professionellen Grabredner bestellt, der das Kunststück vollbringen musste, das Wenige, was wir von Emilia wussten, zu einer würdigen Trauerrede zusammenzufügen.
Kein Wunder also, dass es eine bizarre Zeremonie wurde, die mir fast unwirklich vorkam. Außer meinen Eltern und mir war nur Marks Mutter gekommen. Mark hatte den Vormittag leider nicht freinehmen können. Nachdem der Sarg ins Grab hinabgelassen worden war, verabschiedete sich Maggie Dupont schon wieder. Sie war nur uns zuliebe gekommen, denn eigentlich hatte sie Emilia so gut wie gar nicht gekannt. Als ich mit meinen Eltern zurück zum Parkplatz ging, trat aus dem Schatten der Bäume ein hochgewachsener, kahlköpfiger Mann von vielleicht sechzig Jahren. Obwohl er offenbar versuchte ein freundliches Lächeln auf sein Gesicht zu zaubern, behielten seine Züge etwas Hartes, Abweisendes. Seine blauen Augen verschwanden beinahe unter den buschigen, grauen Brauen. Er trug einen eleganten, dunkelblauen Seidenanzug, der sicher nicht billig gewesen war.
»Entschuldigen Sie, wenn ich Sie an diesem Ort und zu dieser unpassenden Stunde störe. Sind Sie Familie Garner?« Seine Stimme klang tief und melodiös, die Finger seiner rechten Hand spielten mit den dunklen Perlen einer kleinen Holzkette.
»Ja«, antwortete mein Vater misstrauisch.
»Darf ich mich vorstellen? Mein Name ist Charles Solomon.« Er überreichte eine Visitenkarte und berührte dabei kurz Dads Hand.
»Sie sind Anwalt«, stellte mein Vater fest.
»Anwalt, Notar… und Nachlassverwalter.« Das letzte Wort sprach er in einem Ton aus, als müsste er sich dafür entschuldigen.
»Sie kannten Emilia Frazetta?«, fragte meine Mutter misstrauisch.
»Schon sehr lange. Unsere
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