Dark Places - Gefährliche Erinnerung: Thriller (German Edition)
herabsegelte. Aber dann hob er das Fahrrad auf und verscheuchte den Gedanken. Er war doch nicht mehr zehn.
Entschlossen radelte er los. Die rechte Hüfte war verkrampft, der Arm brannte, wo die Maisstängel die Haut aufgeschürft hatten. Vielleicht bekam er auch noch einen schönen blauen Fleck. Das würde Diondra gefallen, sie würde mit der Fingerspitze erst ganz sanft über die Prellung streichen, sie dann ein-, zweimal umkreisen und schließlich mitten hineinpieken, damit sie sich über ihn schieflachen konnte, wenn er zusammenzuckte. Sie liebte dramatische Reaktionen, so war Diondra – sie schrie, sie heulte, sie jaulte und brüllte vor Lachen. Um deutlich zu machen, dass sie überrascht war, riss sie die Augen weit auf und zog die Brauen fast bis zum Haaransatz. Sie versteckte sich gern hinter der Tür und überfiel ihn hinterrücks, um ihn dazu zu kriegen, dass er ihr nachjagte. Diondra war seine Freundin, sein Mädchen. Diondra – ihr Name erinnerte ihn an eine Prinzessin oder eine Stripperin, er war nicht sicher, welches von beidem. Denn sie verkörperte auch beides: reich, aber ordinär.
Irgendetwas an seinem Fahrrad hatte sich gelockert und rappelte – ein Geräusch wie ein Nagel in einer Blechdose, das aus der Gegend der Pedale kam. Als er stehen blieb, um nachzusehen, sah er, dass seine Hände von der Kälte rosa und runzlig waren, wie bei einem alten Mann. Das Blut lief ihm in die Augen, während er sich bemühte, den Schaden zu finden, aber er konnte nichts entdecken. Scheiße, er war einfach nutzlos. Er war zu jung gewesen, als sein Dad sich abgeseilt hatte, und er hatte nie Gelegenheit gehabt, von ihm etwas Praktisches zu lernen. Manchmal sah er andere Jungs an Motorrädern und Autos herumwerkeln, und die Motoren kamen ihm vor wie metallene Innereien eines Tiers, das er nicht kannte. Dabei kannte er sich mit Tieren eigentlich gut aus. Mit Tieren und mit Waffen. Wie alle aus seiner Familie ging er gelegentlich auf die Jagd, aber das bedeutete nicht viel, denn seine Mom konnte besser schießen als er.
Er wollte sich nützlich machen, aber er wusste nicht, wie er das anstellen sollte, und das machte ihm eine Scheißangst. Im Sommer war sein Dad für ein paar Monate auf die Farm zurückgekommen, und Ben hatte sich Hoffnungen gemacht, dass er ihm nach all der Zeit etwas beibringen, sich ein bisschen benehmen würde wie ein richtiger Vater. Stattdessen erledigte Runner den ganzen handwerklichen Kram selbst und forderte Ben nicht mal auf zuzusehen. Nicht nur das – er stellte dabei auch unmissverständlich klar, dass Ben sich gefälligst raushalten und ihm aus dem Weg gehen sollte. Ben wusste genau, dass Runner ihn für eine hoffnungslose Memme hielt: Wenn seine Mom etwas repariert haben wollte, sagte Runner: »Das ist Männersache«, und grinste Ben dabei irgendwie herausfordernd an, damit er ihm zustimmte. Nein, er konnte Runner nicht bitten, ihm etwas zu zeigen.
Außerdem hatte er kein Geld. Nein, das stimmte nicht ganz. Er hatte vier Dollar und dreißig Cent in der Tasche, aber das war alles für diese Woche. Seine Familie hatte nichts auf der hohen Kante. Nur ein Konto, das aber immer so gut wie leer war – Ben hatte einmal einen Auszug gesehen, auf dem als Guthaben buchstäblich ein Dollar zehn gestanden hatte –, das war weniger, als er in der Jackentasche rumtrug, und es hätte für seine ganze Familie reichen sollen. Seine Mom führte die Farm nicht richtig, irgendwie machte sie alles verkehrt. Sie fuhr eine Ladung Weizen in einem geborgten Truck zum Silo rüber und hatte am Ende weniger in der Tasche, als es gekostet hatte, ihn anzubauen. Und wenn sie mal Geld hatte, schuldete sie es garantiert jemandem.
Die Wölfe warten schon vor der Tür
, sagte sie immer, und als Ben klein war, hatte er sich vorgestellt, wie seine Mom sich zur Hintertür hinausbeugte und dem Rudel frische grüne Banknoten zuwarf, nach denen die Tiere schnappten, als wäre es Fleisch. Und es war nie genug.
Würde ihnen irgendwann jemand die Farm wegnehmen? Wäre es vielleicht sogar besser, wenn ihnen jemand die Farm wegnahm? Dann konnten sie von vorn anfangen und waren nicht mehr an dieses große, tote Lebewesen gekettet. Aber die Farm hatte den Eltern seiner Mom gehört, und sie war ein sentimentaler Mensch. Ziemlich egoistisch eigentlich. Die ganze Woche über arbeitete Ben auf der Farm, und am Wochenende ging er zurück zur Schule und machte dort den beschissenen Putzjob. Schule und Farm und Farm und Schule,
Weitere Kostenlose Bücher