Dark Places - Gefährliche Erinnerung: Thriller (German Edition)
gesehen, was ich gesehen habe, sagte ich mir, mein ewiges Mantra. Obwohl es nicht die Wahrheit war. Die Wahrheit war, dass ich gar nichts gesehen hatte. Okay? Na gut. Genau genommen habe ich nichts gesehen. Ich habe nur etwas gehört. Ich habe es nur gehört, weil ich mich im Wandschrank versteckt hatte, als meine Familie gestorben ist, weil ich nämlich ein wertloser kleiner Feigling bin.
Jene Nacht, jene Nacht, jene Nacht. Ich war in dem dunklen Zimmer aufgewacht, das ich mit meinen Schwestern teilte, in dem Haus, in dem es so kalt war, dass die Eisblumen innen auf den Fenstern blühten. Irgendwann war Debby zu mir ins Bett gekommen – wegen der Kälte kuschelten wir uns oft zusammen –, und sie drückte mich mit ihrem runden Hintern in den Magen und gegen die kalte Wand. Schon seit ich krabbeln konnte, war ich ein Schlafwandler, deshalb weiß ich nicht mehr, wie ich über Debby geklettert bin, aber ich erinnere mich noch, dass ich Michelle auf dem Boden liegen gesehen habe, wie üblich ihr Tagebuch fest im Arm. Noch im Schlaf lutschte sie an ihrem Füller, und die schwarze Tinte lief ihr mit der Spucke übers Kinn. Ich machte mir nicht die Mühe, sie zu wecken und ins Bett zurückzuscheuchen. In unserem lauten, kalten, engen Haus verteidigte jeder seinen Schlaf mit allen Mitteln, und keiner wachte kampflos auf. So ließ ich Debby allein in meinem Bett zurück. Als ich die Tür öffnete, hörte ich Stimmen am anderen Ende des Korridors, in Bens Zimmer – ein dringliches Flüstern, eine Unterhaltung von Leuten, die meinen, sie wären leise, in Wirklichkeit aber ziemlich laut sind. Durch die Ritze unter Bens Tür fiel Licht. Ich beschloss, mich bei meiner Mom zu verkriechen, tappte den Korridor hinunter, schlug ihre Decke zurück und schmiegte mich an ihren warmen Rücken. Im Winter schlief meine Mutter immer in zwei Trainingsanzügen und mehreren Pullovern – sie fühlte sich an wie ein riesiges Stofftier. Normalerweise rührte sie sich nicht, wenn ich zu ihr ins Bett kroch, aber ich erinnere mich, dass sie sich in jener Nacht so rasch zu mir umdrehte, dass ich dachte, sie sei wütend. Aber stattdessen packte sie mich, drückte mich an sich und küsste mich auf die Stirn. Sagte mir, dass sie mich liebte. So etwas sagte sie so gut wie nie zu uns. Deshalb weiß ich es noch. Jedenfalls glaube ich, dass es so war. Vielleicht habe ich es mir aber auch ausgedacht, um mich zu trösten. Aber sagen wir einfach, sie hat mir gesagt, dass sie mich liebte, und ich schlief sofort wieder ein.
Als ich das nächste Mal aufwachte, was Minuten oder Stunden später gewesen sein kann, war meine Mutter nicht mehr da. Draußen, vor der geschlossenen Tür, durch die ich nicht hindurchsehen konnte, hörte ich meine Mutter jammern und Ben brüllen. Ich hörte auch noch andere Stimmen: Debby schluchzte, schrie
Mommymommymommymichelle
und dann hörte ich eine Axt. Ich wusste sofort, dass es eine Axt war. Metall, das durch die Luft sauste, genau dieses Geräusch. Nach dem Sausen kam ein dumpfer Schlag und ein Gurgeln, und es klang, als würde Debby nach Luft ringen. »Warum zwingst du mich, so was zu tun?«, schrie Ben meine Mom an. Von Michelle war nichts zu hören, was seltsam war, denn sonst hörte man von ihr immer am meisten. Aber nichts, keinen Piep von Michelle. Meine Mutter schrie:
Lauf weg! Lauf weg! Nicht! Nicht!
Dann knallte ein Schuss, und meine Mom schrie immer noch, nur waren es jetzt keine Worte mehr, nur ein Kreischen, wie ein Vogel, der am Ende des Korridors gegen die Wand fliegt.
Schwere Schritte von Stiefeln und Debbys kleine Füße, die wegliefen, sie war noch nicht tot, sie rannte in Richtung von Moms Zimmer, und ich dachte nur
Nein, nein, komm bloß nicht rein
, und die Stiefel brachten den Boden zum Zittern, ein Schleifen und Kratzen und wieder das Gurgeln, Gurgeln und Schlagen, ein Aufprall, das Axtgeräusch, und von meiner Mom kam das grausige Gekrächze. Wie erstarrt stand ich mitten im Zimmer und horchte, horchte, bis noch ein Schuss in meinen Ohren knallte und ein dumpfer Schlag die Dielen unter meinen Füßen erschütterte. Doch feige, wie ich war, hoffte ich, alles würde sich wieder beruhigen, alles würde weggehen, und wiegte mich, halb in den Wandschrank gekauert, besänftigend hin und her.
Geh weg, geh weg, geh weg
. Türen knallten, wieder Schritte und ein Heulen, Ben, der hektisch vor sich hin flüsterte. Und dann ein Weinen, tiefes Männerweinen und Bens Stimme, ich weiß, dass es Bens Stimme
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