Dark Silence - Denn deine Schuld wird nie vergehen
Sutro, das Marla seit ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus als ihr Heim betrachtet hatte. Der Lift kam ihr auf unheimliche Art bekannt vor, die Gerüche und Geräusche dieses müden alten Hauses zupften an den ausgefransten Ausläufern ihrer Erinnerung.
Hatte sie hier gewohnt? Und wenn ja, wie lange, und wie war es gekommen, dass sie als Alex Cahills Frau galt oder vorgab, seine Frau zu sein? In diesem Aufzug war sie schon einmal gewesen. Das wusste sie. Bei dem Gedanken bekam sie weiche Knie und einen trockenen Hals. Angst kämpfte gegen Neugier. Sie musste herausfinden, wer sie war, was hinter der Tür zu Kylie Paris’ Wohnung wartete. Und doch ängstigte es sie zu Tode.
Du musst es wissen. Dir bleibt keine Wahl.
Nick stand neben ihr. Den Blick auf die digitale Stockwerkanzeige geheftet, wartete er darauf, dass der Aufzug anhielt. Seine Schultern waren gestrafft, die Sehnen in seinem Nacken angespannt, die Luft war stickig.
James gurrte leise an ihrem Hals, und sie schloss die Augen. Was auch immer geschehen mochte, sie würde ihn niemals hergeben.
Nie im Leben.
Lieber wollte sie sterben.
Die Türen der Kabine öffneten sich. Marlas Herz machte einen Satz. Sie blickte in einen hohen, ovalen Spiegel an der Wand gegenüber dem Aufzug.
Die Frau im Spiegel wirkte gehetzt. Groß und schlank, ein Baby so fest im Arm, als hätte sie Angst, es könnte einfach verschwinden, das Bild einer Frau, die Marla nicht kannte. Ihr Gesicht wies keine Blutergüsse mehr auf, keine sichtbaren OP-Nähte. Kurzes mahagonifarbenes Haar bildete den Rahmen für hohe Wangenknochen, wachsame grüne Augen, geschwungene Brauen und eine gerade Nase mit ein paar Sommersprossen. Ein großer, sinnlicher Mund, dessen Lippen zitterten, bevor sie die Unterlippe zwischen weiße, bemerkenswert regelmäßige Zähne sog.
Marla Cahill?
Kylie Paris?
Wer?
Sie begegnete Nicks Blick im Spiegel, erkannte den eisernen Willen in seinem kantigen Kinn, die Entschlossenheit in seinem schmalen Mund, den Schatten der Angst in seinen Augen. »Bringen wir es hinter uns«, drängte er.
Sie nickte. Wehrte sich gegen den Drang davonzulaufen.
Lügen. Mein ganzes Leben besteht aus Lügen, dachte sie, als sie sich instinktiv nach rechts wandte und in einen Flur trat, der ihr gespenstisch bekannt vorkam. Ihr Herz hämmerte, ihr wurde es eng in der Brust, vor Nervosität rannen ihr Schweißperlen über den Rücken. »Hier war ich schon mal«, sagte sie zu Nick und schluckte. »Verdammt, ich weiß es genau.«
Vor der Tür 3-B blieben sie stehen. Vor der Wohnung, die Kylie Paris ihr Zuhause nannte. Nick klopfte energisch.
Von drinnen war nichts zu hören. Keine Fernsehgeräusche, keine Schritte, kein erstauntes Luftschnappen, kein Auge im Türspion, keine Begrüßung, die die Besucher warnten, dass ein Bewohner auf dem Weg zur Tür war. Nichts als Stille. Totenstille.
»Und jetzt?«, fragte Marla. Sie standen ratlos in dem engen, schlecht belüfteten Flur. Das Licht war dämmerig, alles wirkte schäbig und farblos. »Ich habe keinen Schlüssel.«
»Dann holen wir ihn uns vom Hausmeister.«
»Wie denn?«
Nick kratzte den einen Tag alten Bart auf seiner Wange. »Mal sehen, ob er dich für Kylie hält. Gib mir den Kleinen, fahr hinunter ins Erdgeschoss und verlange den Schlüssel. Vielleicht lässt der Mann dich in die Wohnung.«
»Gut«, sagte sie in der Überzeugung, dass der Trick nicht funktionieren würde.
Sie täuschte sich. Der Hausmeister, der bei ihrer Ankunft nicht auf seinem Posten gewesen war, lächelte nachsichtig, zeigte dabei eine Zahnlücke und entnahm einer verschlossenen Kiste in einem Schrank den Schlüssel. Er ging auf die siebzig zu, hatte dichtes silbergraues Haar und sagte mit belustigter Miene: »Wissen Sie, Ms Paris, Sie sollten sich einen Nachschlüssel anfertigen lassen und ihn irgendwo verstecken. Was würden Sie machen, wenn der alte Pete nicht hier wäre, um Ihnen aus der Klemme zu helfen?«
»Ich weiß es nicht«, gestand sie wahrheitsgemäß.
»Tut mir leid, die Sache mit Ihrem Baby«, fügte er hinzu, und sie erstarrte. »Wie schrecklich, nach so langer Schwangerschaft ein Kind zu verlieren.« Sie fror innerlich.
»J-ja«, stammelte sie, und ein Schaudern kroch über ihren Rücken. Hatte sie diesem Mann erzählt, ihr Kind sei gestorben?
»Tja, Sie sind jung, Sie können noch mehr Kinder kriegen.« Er zog eine Braue hoch. »Beim nächsten Mal wäre es vielleicht besser, wenn Sie sich vorher einen Ehemann angeln.«
»Meinen
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