Dark Silence - Denn deine Schuld wird nie vergehen
Ihre Frisur war noch das geringste ihrer Probleme. Das Make-up, das sie wohlgeordnet in der obersten Schublade des Waschtisches vorfand, beachtete sie nicht. Was hätte es schon geholfen? Stattdessen wandte sie sich dem begehbaren Kleiderschrank zu.
Er war riesig, enthielt perfekt aufgereihte Kostüme, Hosen und Jacken. Schuhe in allen Farben, jedes Paar ordentlich in einem eigenen Fach, nahmen die eine Wand ein, eine andere war glitzernden Abendkleidern in Plastikhüllen mit Reißverschlüssen vorbehalten. Tennis- und Trainingskleider füllten eine Ecke, zwei Regale waren vollgestellt mit Handtaschen. Neben der Tür war ein mannshoher Spiegel angebracht, und in einem hohen, schmalen Wandschrank befand sich ein Bügelbrett.
»Wunderbar.« Doch wo waren ihre Jeans? Die alten Sweatshirts? Ihre Handtasche? Ja … wo war die Handtasche mit Geldbörse und Scheckbuch und vielleicht sogar einem Adressbuch, mit all den Dingen, die für ihr Leben wichtig waren?
Sie sah jede einzelne Hand- und Sporttasche, jeden Koffer in den zwei Regalen durch. Alle waren leer. Sauber. Wie chemisch gereinigt, verdammt noch mal! »Mist.« Entnervt packte sie alles zurück in die Regale, durchwühlte dann die Schubladen eines Kleiderschranks und fand eine steife Jeans, eine Nummer zu groß, und einen pinkfarbenen Pulli, so weich, dass sie annehmen konnte, ihn gemocht zu haben.
Oder?
»Denk nicht daran«, ermahnte sie sich selbst und schlüpfte in ein abgetragenes Paar Tennisschuhe aus einem der Fächer. Sie dachte an ihre Tochter, ihren Sohn, ihren Mann und Nick, ihren ehemaligen Liebhaber. Ihre Lippen spannten sich, als die Fragen nach ihrem Leben rasant und wütend über sie hereinbrachen und damit unvermeidlich auch die Kopfschmerzen wiederkehrten.
Neben dem begehbaren Schrank stand ein Schreibsekretär, vor dem sie stehenblieb und den Blick über die Bilder vor dem Spiegel mit Facettenrahmen schweifen ließ. Ein goldgerahmter Schnappschuss fiel ihr ins Auge. Er zeigte sie, wie sie lange vor dem Unfall ausgesehen hatte. Das mahagonifarbene Haar glänzte in der Sonne, auf der Hüfte trug sie ein Mädchen von etwa drei Jahren. Hinter ihr breitete sich wie ein paillettenbesticktes Tuch das Meer aus. Marla stand barfuß auf einem Felsen, den Kopf in den Nacken gelegt, in die Sonne blinzelnd. Ein roséfarbenes Sommerkleid blähte sich über ihren Knien und gab einen gebräunten Oberschenkel frei. Cissy hatte ihre molligen Ärmchen um den Nacken ihrer Mutter gelegt.
Marla nahm das Foto in die Hand. Ihre Finger umklammerten den Rahmen so fest, dass die Knöchel weiß hervortraten. Denk nach, mach schon, erinnere dich! Dieses Bild zeigt dich und Cissy … und derjenige, der es aufnimmt, der Mann, dessen Schatten zu deinen Füßen teilweise sichtbar ist, wird wohl Alex sein!
Doch sosehr sie sich auch bemühte, sie konnte sich nicht an diesen Tag am Strand erinnern. Sie konnte keinen einzigen besonderen Tag heraufbeschwören.
»Lass dir Zeit«, ermahnte Marla sich wieder, stellte das Bild zurück und hätte es dabei fast fallen lassen, weil ihre Finger sich nicht so geschickt bewegten, wie sie sollten. Sie fühlte sich immer noch unbeholfen und linkisch. Nervös ging sie weiter zum Kinderzimmer. James lag nicht in seiner Wiege, doch sie bewahrte die Ruhe. Wahrscheinlich hatte das Kindermädchen ihn geholt. Oder Eugenia, »Nana«, wie sie sich selbst nannte, gab sich ihrer Vernarrtheit hin – sie benahm sich, als sei die Geburt des Jungen ein mindestens so bedeutendes Ereignis wie Christi Geburt. Oder gar seine Auferstehung.
Vor dem Kinderzimmer hörte Marla Stimmen aus dem Erdgeschoss, doch sie beschloss, sich noch ein wenig umzusehen, solange sie allein war – sich mit dem Haus vertraut zu machen. Egal, ob der Grund dafür Verfolgungswahn war oder das Bedürfnis nach Selbstschutz, sie wollte so viel wie eben möglich über sich und ihre Familie erfahren, und zwar nicht immer nur durch Fragen und Antworten, die sie als sorgfältig konstruiert und unaufrichtig empfand. Sie musste sich selbst finden, und zwar schnellstens. Sie war jetzt zu Hause. Bereit, ihr Leben wiederaufzunehmen, begierig, die Vergangenheit hinter sich zu lassen.
Aber das kannst du nicht. Noch nicht. Dir fehlen noch so viele Erinnerungen, und du musst dich noch mit der Polizei auseinandersetzen … Marla versuchte, die düsteren Gedanken aus ihrem Bewusstsein zu verdrängen. Sie würde Pams Tochter und Exmann anrufen müssen, um ihnen ihr Beileid und ihr Bedauern
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