DARK TRIUMPH - Die Tochter des Verräters
die Sterbenden zu erkennen, viel wichtiger war es für mich, den Lebenden auszuweichen, was mir möglich wurde, weil ich ihre Pulse spüren konnte. »Ich nehme an, du hast dir von dieser blinden alten Frau mit ihrem schrecklichen Kristallstöpsel fast die Augen ausstechen lassen?«
»Du nicht?«
»Nein, ich habe ihn ihr abgenommen und es selbst getan.«
Ismae starrt mich erschrocken an. Für einen Moment ist es so, als sei die alte Ismae zurück, die, die alles an dem Kloster verehrt und jede Regel befolgt hat. Dann lacht sie. »Oh, Sybella! Ich wäre liebend gern eine Spinne an der Wand gewesen, um das zu sehen.«
»Sie war überaus gekränkt.«
»Warum wolltest du wissen, ob die Wirkung der Tränen Mortains nachlässt?«, fragt sie sanft.
Ich hole tief Luft. »Weil es Männer gegeben hat, von denen ich weiß, dass sie des Verrates schuldig sind – denn ich habe es mit eigenen Augen gesehen –, und doch tragen sie nicht Mortains Mal.« Ich sehe ihr in die Augen. »Wenn Mortain d’Albret und Marschall Rieux Gnade gewährt, dann fällt es mir schwer, Ihm dienen zu wollen.« Ich hatte nicht vor, ihr das zu beichten, aber die Worte sprudeln aus mir heraus.
Sie mustert mich einen Moment, dann kniet sie sich neben mein Bett. »Sybella«, sagt sie, und ihre Augen leuchten geheimnisvoll. »Ich bin Mortain von Angesicht zu Angesicht begegnet, und die Äbtissin, vielleicht sogar das Kloster, irren sich in vielerlei Hinsicht.«
Ich starre sie ungläubig an und mein Herz beginnt zu rasen. »Du hast Ihn gesehen? Er ist real?«, frage ich.
»Ich habe Ihn gesehen, und Er ist freundlicher und barmherziger, als du es dir vorstellen kannst. Und Er hat uns solche Gaben geschenkt!« Sie schaut auf ihre Hände hinab. »Ich bin nicht nur immun gegen Gift, ich kann auch meine eigene Haut benutzen, um es aus anderen herauszuziehen.«
»Wirklich?«
Da ist kein Hauch von Zögern oder Zweifel. »Ja.«
Ich drehe das Gesicht zur Wand und tue so, als kuschele ich mich in den Schlaf, damit sie den Hunger in meinen Augen nicht sieht. »Erzähl mir davon«, flüstere ich. »Erzähl mir von unserem Vater.«
»Mit Freuden.« Sie hält inne, als müsse sie ihre Gedanken sammeln. Als sie wieder spricht, ist ihre Stimme voller Wärme. »Da ist so viel Güte in Ihm. Und Barmherzigkeit. All das Richten und Verurteilen, das man uns von Ihm zu erwarten gelehrt hat, war nicht da. In Seiner Gegenwart habe ich mich so wohl und vollkommen gefühlt, wie ich es noch nie zuvor erlebt habe.«
Da ist solche Gewissheit in ihrer Stimme, dass ich voller Neid bin.
»Wir sind nicht nur Seine Töchter, die gezeugt wurden, um Seine Wünsche zu erfüllen. Er liebt uns«, erklärt sie.
Die Idee ist so fremd, dass ich schnaube.
»Er tut es wirklich! Denn Er ist gefangen im Reich des Todes, und es schenkt Ihm großes Glück zu wissen, dass wir, die wir aus Seinem Samen geboren sind, in der Lage sind, das Leben willkommen zu heißen.«
»Wenn das so ist, warum hat Er uns dann dazu verdammt, im Schatten zu lauern und uns in Seine Dunkelheit zu hüllen?«
Sie antwortet nicht sofort. Ich werfe einen verstohlenen Blick über die Schulter und sehe, dass Ismae stirnrunzelnd das Fenster betrachtet, als suche sie die Antwort auf diese Frage dort. »Ich glaube, das sind nicht Seine Wünsche, sondern die des Klosters.«
Diese Worte sind wie ein Hagelschauer, der meinen Rücken hinunterläuft. Ich richte mich auf und drehe mich zu ihr um. »Wie meinst du das?«
»Ich glaube«, sie wählt ihre Worte, als bahne sie sich einen Weg durch einen Fluss, »dass das Kloster sowohl Mortain als auch Seine Wünsche für uns missversteht. Ob durch Ignoranz oder Absicht, weiß ich nicht.«
Angesichts der Ungeheuerlichkeit dieser Aussage krampft sich das Herz in meiner Brust zusammen. »Erkläre mir das«, bitte ich und streiche mir das Haar aus den Augen, damit ich jeden meiner Sinne benutzen kann, um zu versuchen, diese gewaltige Offenbarung zu verstehen.
»Zunächst einmal beharrt Er nicht darauf, dass wir mit Rache oder Verurteilung in unseren Herzen handeln. Für Ihn ist es ein Akt großer Barmherzigkeit und Gnade, Tod zu bringen, denn ohne ihn wären alle Menschen gezwungen, in gebrechlichen oder versehrten Körpern mit dem Leben zu ringen, geschwächt und von Schmerzen gequält. Das ist der Grund, warum Er uns eine Reliquie gegeben hat.«
»Eine was?«
Ismae sieht mich verwundert an. »Du hast keine?«
»Ich habe noch nie von so etwas gehört.«
Ismae greift in die
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