Darkover 04 - Der Untergang von Neskaya
Stellung konnte er stundenlang sitzen, den Kopf auf dem geraden Hals balancierend, die Brust vorgereckt, den Rücken aufrecht und entkrampft.
Er schloss die Augen und ließ sich in den Kreis fallen. Bernardo begann sofort damit, sie zu einer Einheit zu verweben. Während sie sich aufeinander einstimmten, sah Coryn sie als einen in ständiger Veränderung befindlichen Regenbogen, dann hörte er sie als Stimmen, die sich in harmonischem Einklang befanden, kurz darauf als funkelnde Sonnenpunkte, die von einer klaren Wasseroberfläche reflektiert wurden. Bernardos Berührung ließ einen Stein in das Wasser fallen und rief sich ausbreitende Wellenkreise hervor. Durch jeden dieser Kreise fuhr eine Art Energie, hinaus und wieder hinein - bis zum Mittelpunkt, wo Bernardo sie sammelte.
Wieder einmal stand Coryn plötzlich vor der überweltlichen Manifestation von Neskaya. Bernardo trug sie zur höchsten Spitze hinauf, von wo sie hinabblickten. Geschickt machte er sich daran, die psychische Substanz des Turms neu zu gestalten. Die Mauern wurden dicker, bildeten Zinnen aus, die Fenster wurden schmaler. Eine Spur Efeu trieb zu einem Bewuchs scharfblättriger Dornenranken aus. Aus einem Wahrzeichen der Anmut und Schönheit zog sich Neskaya zu einer abweisenden Festung zusammen.
»Tramontana!« Bernardos geistige Stimme hallte wie ein Gong und wurde vom Boden wie vom Himmel gleichermaßen zurückgeworfen.
In Gedankenschnelle sahen sie sich dem anderen Turm gegenüber. Hier in der Überwelt war es nicht schwer, ein Gebäude wie eine Spielfigur zu bewegen.
Obwohl der Kreis von Tramontana sich mit Sicherheit ihres Erscheinens bewusst war, erfolgte keine Reaktion. Im ersten Augenblick erkannte Coryn seine frühere Heimat nicht wieder. Dieses gedrungene, von pausenlosen elektrischen Entladungen eingehüllte und von einer gewaltigen, linsenartigen Konstruktion überragte Gebäude hatte keinerlei Ähnlichkeit mit seiner materiellen Realität - und schon gar nicht mit der luftigen, anmutigen Form, die Kieran im Gedenken an einen Hain weidenartiger Goldrindenbäume entworfen hatte.
Ein Strahl Gedankenenergie, unsichtbar zwar, doch für Coryns Laran-Sinne leicht auszumachen, trat aus der Linse aus und verschwand im fugenlosen Boden. Er wusste sofort, dass es sich dabei um die Quelle des Bannes handeln musste, der Hasturs Armee zu vernichten drohte. Er spürte Demiana voller Verachtung erschauern und Gerells unartikulierte Abscheu vor diesem Etwas.
Von Mac kam ein simpler Vorschlag, fast unwillkürlich. Warum blockieren wir dieses verfluchte Ding nicht einfach?
Mit präziser Kontrolle verschob Bernardo die Perspektive aus dem astralen Neskaya, um den Betrachtern das ganze Ausmaß und die Wirkung der Linse zu zeigen. Von der höchsten Zinne streckte Coryn die Hände aus. Energie umfloss den Kreis. Die Mauern waren elastisch, als gehörten sie zu einem lebendigen Wesen. Sie bogen sich, hielten aber stand.
Coryn erhaschte einen kurzen Blick auf Soldaten in der Uniform der Hasturs, die wieder auf die Beine kamen, von Offizieren, die sie vorantrieben, von Händen, die Schwert und Bogen gepackt hielten, von Männern, die sich in Sättel schwangen und ihre Pferde in Formation dirigierten, Männer, deren Augen wie weiß glühende Kohlen brannten. Dann holte ein grimmiger Ruf aus Tramontana seine Aufmerksamkeit in die Gegenwart zurück.
»ABSCHAUM VON NESKAYA! VERZIEHT EUCH, SONST BEFÖRDERN WIR EUCH ALLE IN ZANDRUS KÄLTESTE HÖLLE!«
Er hatte diese Stimme schon fast vergessen, obwohl er in seinen frühen Jahren in Tramontana oft genug von ihr geträumt hatte. So wie manche Leute in der Überwelt ein anderes körperliches Aussehen annahmen, klangen auch ihre Stimmen anders, aber trotzdem noch erkennbar. Sie klangen mehr wie sie selbst, wie ihr wahres Selbst. Und diese Stimme hatte sich nicht verändert, seit er sie als Kind zum ersten Mal vernommen hatte.
Mit welchem Recht spricht Rumail von Ambervale für Tramontana? Der Gedanke loderte in ihm auf.
Coryn hielt seine mentale Antwort jedoch zurück, denn es war Bernardos Aufgabe, als Bewahrer von Neskaya für sie alle zu sprechen. Aber Bernardo wartete einfach nur ab.
Langsam und geräuschlos schwoll die Linse zu noch größerem Umfang an. Sie drehte sich seitlich in ihrer Aufhängung, sodass sie nun genau auf Neskaya zielte. Funkelnde blaue und grüne Partikel erschienen in dem farblosen Strahl. Zuerst waren nur wenige zu sehen, die wie bunte Staubkörnchen nach außen trieben.
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