Darkover 04 - Der Untergang von Neskaya
hatte. Die Antwort folgte unverzüglich, ein Chor aus einem Dutzend Stimmen - die ihres Onkels, von Lady Caitlin und Padriks Vater.
Du bist, was du immer warst, eine echte Tochter deines Vaters und deines Geschlechts.
Darf ich denn nie ein eigenes Leben und einen eigenen Willen haben?
Hätten die Götter das für dich vorgesehen, wärst du nicht als Comynara geboren worden. Im hintersten Winkel ihres Verstandes stieg ein leiser, unbändiger Klageruf auf, ein Schmerzensschrei jenseits aller Worte, jenseits des Ertragbaren.
Das war nun also ihr Schicksal, dachte sie. Als Königin hatte sie ihren Pflichten nachzukommen und nur das eine Ziel zu verfolgen, dass ihr Sohn Volljährigkeit erreichte und den Thron bestieg.
Irgendwann würde sie natürlich erfahren, was in Neskaya vorgefallen war. Die Kunde davon würde erst nach Hali, dann zu ihrem Onkel und schließlich auch nach Acosta gelangen. Gewiss würde es sich um eine Folge ihres Eingreifens handeln, denn es war ihr gelungen, die Bannflüche aus Tramontana abzuwehren. Vielleicht schwiegen sie jetzt in Neskaya für eine Weile, weil die mentalen Kräfte des Turmpersonals vorübergehend geschwächt waren.
Aber im Grunde ihres Herzens wusste Taniquel, dass das nicht die Ursache war. Coryn hätte sie nicht auf diese Weise gerufen - hätte sie mit ihren armseligen Laran-Kräften gar nicht erst erreicht -, wenn er nicht völlig verzweifelt gewesen wäre. Am allerschlimmsten war jedoch, dass sie nicht einmal wusste, ob es ein Hilferuf oder ein letztes Lebewohl gewesen war.
Eine Königin mit ihrer Erziehung hätte niemals auch nur auf die Idee kommen dürfen, Ambervale und Acosta sich selbst zu überlassen und einfach nach Neskaya zu reiten. Doch sie hatte ihrer hohen Stellung im Lauf der Zeit schon viel zu viel geopfert.
Taniquel verfing sich mit den Füßen in ihrem zerrissenen Rock und blieb stehen. Esteban, der ihr wie ein Schatten folgte, sah sich beunruhigt nach allen Seiten um. Er zog sein Schwert, als witterte er eine Gefahr. Geistesabwesend legte sie die Hand auf seinen Arm und ließ sich von ihm weiterführen. Er richtete sich stolz auf.
Taniquel kam sich vor wie eine Blinde, als hätte sie einen wichtigen Teil ihrer selbst in Rafaels Zelt zurückgelassen. Dieser Körper, der so stolz dahinschritt, die Fingerspitzen leicht auf den muskulösen Arm ihres getreuen Leibwächters gelegt, war der einer Unbekannten. Und sie spürte, dass sie tatsächlich nur noch eine leere Hülle ihres wahren Selbst wäre, wenn sie Neskaya jetzt im Stich ließe und nach Acosta zurückkehrte.
Machte sie sich etwas vor? Belog sie sich selbst, um die Stimme ihres Herzens zum Schweigen zu bringen? Coryn hatte in ihr Träume und Sehnsüchte wachgerufen, die sie zuvor nicht gekannt hatte. Taniquel hatte immer angenommen, dass dergleichen nur Gestalten aus Liedern und Legenden widerfuhr, zum Beispiel Hastur, dem Sohn des Lichts, der sich seiner angebeteten Cassilda zuliebe in einen Sterblichen verwandelte. Ihr war eine solche Liebe nicht beschieden. Ihr Los war ein anderes, sie hatte eine Pflicht zu erfüllen.
Mochten die Cristoforos den Heiligen Lastenträger auch anflehen, ihren Kummer zu lindern - sie hatten ihr Schicksal immerhin selbst gewählt. Keiner von ihnen war schon vor seiner Geburt dazu verurteilt, ein solches Leben zu führen. Außerdem gab es unter ihnen keine weiblichen Mönche, hatte Taniquel gehört.
Man erzählte sich zwar von einer Gruppe von Frauen, die sich dem Dienst an Avarra, der Dunklen Mutter, geweiht hatten, doch Taniquel wusste nur, dass diese Frauen nichts mit Männern zu tun haben wollten.
Wenn Coryn starb, starb mit ihm eine so große Leidenschaft und Zärtlichkeit, wie man ihr nur einmal im Leben begegnete.
Wenn sie sich jetzt vor ihm verschloss, würde ihr Herz für immer schweigen.
Vielleicht war er ja schon tot, sagte sie sich. Vielleicht riskierte sie ganz umsonst alles, wofür sie gekämpft hatte.
Durch Nachdenken finde ich es nicht heraus. Ich finde es nur heraus, wenn ich mich dorthin begebe und mich selbst überzeuge.
Nach Neskaya zu gehen bedeutete, ihr eigenes Inneres zu erforschen.
Anscheinend war sie in diesem Moment an einem Scheideweg ihres Lebens angelangt. Sie hatte ihr Leben lang gewusst, welchen Weg sie einschlagen musste.
Ich will keine Königin sein, die das Vertrauen jener enttäuscht, die alles für sie gegeben haben. Ich will keine herzlose Herrscherin sein.
Vor ihrem Nachtlager, das aus einem Stapel Decken bestand, von
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