Darkover 04 - Der Untergang von Neskaya
zählt. Liebe jedoch zählt. Und Wahrheit auch. Obwohl wir gut ausgebildet und mächtig sind, konnten wir keinen Kontakt zu Coryn herstellen. Ihr dagegen… « Sie legte Taniquel den Finger auf die Lippen, so zart wie ein Schmetterling. »Ihr seid vielleicht die Einzige, die das vermag.«
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Bevor sie die Augen schloss, tastete Taniquel in den Falten ihres Unterkleides noch einmal nach Coryns zerknittertem Taschentuch und umklammerte es fest. Wie oft hatte sie das Tuch schon so gehalten, es ans Herz gedrückt, seit Coryn es ihr damals im Garten geschenkt hatte. Der Stoff war ungewöhnlich fein gewirkt, die Stickerei besonders kunstvoll gestaltet. Alter und Zustand des Tuches legten die Vermutung nahe, dass es von Coryns Mutter oder Großmutter stammte. Manchmal glaubte Taniquel sogar noch einen schwachen, süßen, aromatischen Duft wie von getrockneten Blumen wahrzunehmen. Doch vor allem spürte, nein wusste sie mit der wortlosen Gewissheit ihres Laran, dass Coryn ihr mit diesem Stück Stoff zugleich ein Stück seiner Seele anvertraut hatte. Seitdem konnte sie ihm überallhin folgen, wenn sie den nötigen Mut dazu aufbrachte.
Taniquel ließ sich von Amalies gleichförmigem Gemurmel und der sanften Berührung zwischen ihren Augenbrauen davontragen. Ihr Körper wurde so schwer, als versänke er in dem Nest aus Decken und Kissen. Doch gleichzeitig fühlte sich ein anderer Teil von ihr leicht wie ein Vogel, der es kaum erwarten konnte loszufliegen.
Amalies Worte verhallten zu einem dumpfen Echo wie aus einem langen Tunnel. Taniquel spürte ihr Lager nicht mehr, auch nicht die Falten ihres Gewandes oder den Druck ihrer Stiefel gegen Zehen und Spann.
Im nächsten Augenblick befand sie sich in der Überwelt. Obwohl ihre Lider noch geschlossen waren, erkannte sie den Ort sofort wieder, so wie man am metallischen Beigeschmack der Luft erkennt, dass ein Gewitter im Anzug ist. Dann schlug sie die Augen auf. Sie war umgeben von Grau. Ein nichts sagender, eintöniger Himmel und ein endloser Horizont hießen sie willkommen.
Hier verstrich die Zeit, ob es nun Stunden waren oder Jahrhunderte, ohne die geringste Veränderung. Nur sie selbst hatte sich verändert, obwohl ihr Körper und ihr Gewand die gleichen waren wie bei ihrem ersten Aufenthalt.
»Taniquel.« Ein paar Schritte vor ihr stand Amalie. Der Wind bauschte ihr Haar zu einem Strahlenkranz. Sie trug ein hauchdünnes grünes Kleid, das in ständiger Bewegung zu sein schien.
Taniquel richtete sich auf, und Amalie deutete auf eine Stelle irgendwo hinter ihrem Rücken.
Taniquel drehte sich um und erblickte einen gläsernen Turm, der sich kaum vom aschgrauen Himmel abhob. Nur ein leichtes Flimmern wie von heißer, an einem Mittsommertag vom Boden aufsteigender Luft verriet seine Existenz.
»Der Turm von Neskaya«, erklärte Amalie. »Oder vielmehr das, was hier noch von ihm übrig ist.« Ihre Stimme klang müde und traurig. »Nun ist er nicht viel mehr als eine Erinnerung.«
»Wohin soll ich von hier aus gehen? Was soll ich tun?«
Amalie schüttelte abwehrend den Kopf. »Geht, wohin es Euch treibt, oder bleibt einfach stehen - das macht hier keinen Unterschied. Ich… «, sie stockte, »… ich wünsche Euch viel Erfolg. Ihr seid nicht die Einzige, die Coryn liebt, doch Ihr seid unsere einzige Hoffnung.« Mit diesen Worten war sie auch schon wieder verschwunden.
Taniquel spürte Bangigkeit in sich aufsteigen, als sie sich an ihren letzten Aufenthalt und an die schattenhaften Gestalten erinnerte, denen sie begegnet war, bevor ihr Coryn zu Hilfe kam.
Damals hatte sie schreckliche Angst gehabt. Diesmal jedoch hatte sie eine gewisse Vorstellung von dem, was sie erwartete, und war darauf vorbereitet, dass es nicht auf Entfernung ankam, sondern auf Willenskraft. Was sie jedoch nicht wusste, war, was sie tun sollte, falls sie Coryn nicht fand oder er nicht mit ihr kommen konnte.
Sie umklammerte immer noch das Taschentuch, das irgendwie seine ursprüngliche Erscheinungsform beibehalten hatte. Dann rief sie Coryns Namen und wartete.
Zunächst geschah nichts. Himmel und Landschaft lieferten keinen Hinweis, wie viel Zeit schon verstrichen war. Nach einer Weile fiel Taniquel auf, dass der Turm verschwunden oder zumindest unsichtbar geworden war; jedenfalls konnte sie seine Konturen nicht mehr ausmachen. Es wurde ein wenig kühler.
Rechter Hand erschien etwas, eine vage Form am Horizont, das rasch größer wurde, als käme es auf sie zu. Schließlich erkannte sie mehrere
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