Darkover 06 - Die Flamme von Hali
nicht verstehen konnten. Wenn er den Bann spürte, mit dem sein Vater ihn belegt hatte, stellte er ihn sich manchmal als Schraubstock aus Eis vor, der seine Schläfen einzwängte, und manchmal als ein sich langsam drohendes Messer in seinen Eingeweiden. Vielleicht stellte sich Saravio ja vor, dem Willen der Halbgöttin entsprechend zu handeln, wenn er seine Heilerarbeit leistete. Und einem sterbenden Kind die Schmerzen erträglicher zu machen war doch sicher etwas Gutes.
Sein Interesse war geweckt, und er fragte: »Worin genau besteht Naotalbas Geschenk? Wie hast du es benutzt, um dem Kind zu helfen?«
Zur Antwort schloss Saravio die Augen und begann zu summen. Er traf nicht immer den richtigen Ton, aber Eduin erkannte ein populäres Lied. Die Melodie wäre für das Kind eines Wirts sicher vertraut und tröstlich. Vielleicht hatte die Mutter es ihm als Schlaflied vorgesungen.
» Des Morgens steigt die Lerche auf,
Beginnt damit den Tageslauf,
Flattert durch das Himmelsblau
Und kehrt zurück, die Brust voll Tau… «
Wahrend er zuhörte, spürte Eduin, wie seine eigenen Muskeln weicher wurden und sich entspannten. Der Muskelkater von der unbewohnten schweren körperlichen Arbeit schwand, und stattdessen breitete sich Wärme in seinen Gliedern aus. Sein Bauch fühlte sich so voll an, als wäre er gerade von einem Festbankett aufgestanden. Der dumpfe Druck in seinem Kopf löste sich, und in seinem Schädel hörte er nur noch die leise Melodie. Unwillkürlich begann er zu lächeln. Es gab zweifellos nichts Schöneres, als hier zu sitzen, umgeben und erfüllt von dieser Musik. Er konnte sich nicht erinnern, sich je so sicher, so zufrieden, so glückselig gefühlt zu haben. Das verknotete Eis in seinem Bauch verflüchtigte sich wie Nebel über Sommerfeldern. Die zischelnde Skorpionstimme in seinem Kopf schwieg vollkommen. Eine Welle unaussprechlicher Erleichterung durchflutete ihn. Tränen traten ihm in die Augen. Aus seinen Lenden stieg angenehme Hitze auf.
Angenehm…
Was im Namen aller Götter tat Saravio da?
Eduin wurde ruckartig aufmerksam und errichtete seine geistigen Barrieren. Das Gefühl körperlicher Erregung verschwand. Er holte keuchend Luft und erkannte, dass er leise geweint hatte. Saravio sang immer noch halb, halb summte er, und seine Worte waren kaum zu verstehen.
»Was… «, stotterte Eduin. »Was machst du mit mir?«
Saravio begegnete seinem Blick mit einem unschuldigen Ausdruck, in dem es keine Spur von Heimtücke gab. »Mit dir? Ich habe dich aus dem Schneesturm hereingebracht.«
»Du hast für mich gesungen, nicht wahr? Genau wie für das Kind. Genau wie gerade jetzt, oder?«
»Du warst im Delirium und hättest dich vielleicht verletzt. Ich habe gesungen, um dich zu beruhigen. Es hat dir keinen Schaden zugefügt, ebenso wenig wie der Tochter des Wirts.«
»Das ist alles? Du hast… nur für mich gesungen?«
Wieder dieser arglose Blick, wie der eines Kindes. »Ja. Es sei denn… Du meinst wahrscheinlich das Kirian. Ich hatte noch ein wenig übrig. Bist du böse, weil ich es dir gegeben habe, ohne dich vorher zu fragen? Wir sind beide nicht an die Regeln eines Turms gebunden.«
»Nein, ich bin nicht böse«, sagte Eduin.
Das Kirian allein wäre nicht gegen den Zwang angekommen. Saravio war entweder ein hervorragender Lügner mit dem besten Laran -Schild auf Darkover, oder er wusste wirklich nicht, was er getan hatte.
Saravio zuckte die Achseln. »Wie du gehört hast, bin ich nicht gerade der beste Sänger. Dennoch, es war ehrliche Arbeit und hat mir genug für diesen Raum, Essen und ein wenig Wärme eingebracht. Ich brauche nicht viel. Am Ende hat Avarra das Kind an ihre Brust genommen, und ich hatte nicht das Herz, für einen anderen zu singen. An dem Tag, an dem ich dich gefunden habe, hat mir ein Mann vor der Kornkammer des Königs eine Münze gegeben. Ich frage mich, ob er mich wohl für einen Bettler hielt. Ich hätte es besser wissen sollen, denn er verstand die Probleme dieser Stadt, die nur Naotalba retten kann. Aber leider hatte Naotalba seine Augen nicht so geöffnet wie die meinen.«
Bevor Eduin noch weitere Fragen stellen konnte, beugte sich Saravio dichter zu ihm. Seine Augen glühten wie von einem dunklen Feuer. Er senkte die Stimme, die nun vor Intensität bebte. »Ich kann dir vertrauen. Du weißt, was es bedeutet, sich verstecken zu müssen und verfolgt zu werden, wenn man die Wahrheit sagt.«
Eduin
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