Darkover 06 - Die Flamme von Hali
hätte sie das nicht fertig gebracht. Sein Geist verband sich mit ihrem, aber sie spürte weiterhin ihre eigene Verzweiflung. Einen Augenblick schien sie in der Überwelt zu stehen und zuzusehen, wie die Gestalt einer rothaarigen Frau in der Ferne verschwand; sie wollte ihr folgen, aber sie wusste, dass sie sie nie erreichen, nie einfangen könnte.
Beim zweiten Schock ging ein Beben durch den Körper des alten Mannes. Nerven und Muskelfasern leuchteten wie Feuer. Dyannis hörte einen einzelnen Trommelschlag, der tief und aus großer Ferne widerhallte, als umschlösse ein anderes, riesiges Herz sie alle. Sie wusste nicht, ob es der letzte Herzschlag des alten Mannes war, aber danach folgte ein Schweigen, dunkler und tiefer, als sie es sich je hätte vorstellen können. Sie spürte, wie sie in dieses Schweigen sank, es begrüßte, sich mit ihm verband…
Als hätte eine massive Hand nach ihr gegriffen und sie hochgerissen, kam sie keuchend wieder zu sich. Helligkeit und Lärm droschen auf sie ein. Die heisere Stimme einer Frau heulte: »Er ist tot! Er ist tot!«
»Du hast getan, was du konntest«, sagte eine vertraute Stimme.
Dyannis blinzelte und sah ihren Bruder vor sich. Er stand direkt hinter dem toten Mann, seine Kleidung noch nass und voller Wasserpflanzen, sein Gesicht weit über seine Jahre hinaus abgehärmt und müde. Mitgefühl stand in seinem Blick.
Etwas in Dyannis zerbrach. Sie sackte über der Leiche des alten Mannes zusammen. Schuldgefühle schüttelten sie.
Getan, was ich konnte? Ich bin es, die das hier bewirkt hat - Tod und Qual! Wie kann ich das je wieder gutmachen? Kann ich diesem alten Mann sein Leben zurückgeben oder die Erinnerung an das, was sie erlebt haben, aus dem Gedächtnis dieser Menschen löschen?
Und es gab keine Hilfe gegen diese Qual - nicht in ihrem ausgebildeten Laran , das solchen Schaden verursacht hatte, und nicht in leeren, tröstlichen Worten.
Es ist alles meine Schuld! Meine!
»Dyannis Ridenow, eine Leronis und Comynara gibt sich nicht solch hysterischem Selbstmitleid hin.«
Die Stimme ihres Bruders war wie ein Peitschenhieb, Salz auf ihren wunden Nerven. »Du hast zu tun. Es gibt hier Menschen, denen du helfen kannst!«
Beschämt und mit rot glühenden Wangen richtete sich Dyannis auf. Sie brauchte nicht zu antworten, denn alles, was sie zur Verteidigung sagen konnte, würde sie nur noch mehr verdammen. Sie riss sich zusammen und machte sich daran, die geringe Wiedergutmachung zu leisten, die im Augenblick möglich war. Es würde zweifellos ein Urteil über sie gefällt werden, aber im Augenblick musste das noch warten.
Sie verlor jegliches Zeitgefühl, überwachte, assistierte den Heilern, verband Wunden und sprach alle tröstenden Worte, die sie ihrem immer tauber werdenden Geist entringen konnte. Nach scheinbar einer Ewigkeit traf weitere Hilfe ein, Männer und Karren, die König Carolin gesandt hatte. Der König schickte auch seine eigenen Ärzte und Leronyn .
Varzil übernahm die Oberaufsicht über die Operation, wies Mittel zu, besprach sich mit den Überwachern und fand heraus, welche Männer und Frauen am nötigsten Hilfe brauchten und in den Turm gebracht werden sollten, welche zur Stadt zurückkehren konnten und welchen es gut genug ging, dass man sie nach einem guten Schlaf und einer kräftigenden Mahlzeit wieder nach Hause schicken konnte.
»Ihr müsst sie warnen, dass sie eine Zeit lang Alpträume haben und Dinge sehen werden, die nicht wirklich da sind«, sagte er zu Dyannis und den anderen. »Das hier war nicht einfach eine Menschenmenge, die von Hunger und Ungerechtigkeit getrieben wurde. Diese Menschen wurden überschattet von einer Kraft, die ich nicht begreifen kann. Ich kann ein fremdes Laran hinter ihnen spüren, als hätte ein abtrünniger Laranzu sie zu diesem Angriff veranlasst, aber darüber hinaus gibt es noch mehr, einen bösartigen Einfluss, dem ich noch nie zuvor begegnet bin.«
Dyannis bemerkte, dass er ihren Gegenangriff nicht erwähnte und sie nicht für den Missbrauch ihrer Ausbildung und ihrer Gabe tadelte. An diesem Punkt war sie auch zu müde, um sich noch dafür zu interessieren. Sie weigerte sich, das ihr angebotene Reittier zu benutzen, schlurfte zu Fuß zurück zum Turm und verkniff sich eine zornige Antwort, als Lewis-Mikhail vorschlug, sie solle eine Sänfte benutzen, wie die, in der Rorie transportiert wurde. Varzil hatte sie bereits getadelt, und er hatte
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