Darkyn: Dunkle Erinnerung (German Edition)
blaue Lippenstift, den sie trug, ließ ihre Zähne schneeweiß aussehen. »Du verstehst es nicht. Okay. Ich bin ein Gothic.«
Das erklärte das Haar, die Piercings und die Einstellung. »Bist du dafür nicht ein bisschen zu jung? Was ist mit Grunge und Punk passiert?«
»Jetzt ist Postgrunge. Ich glaube, Punk wurde direkt neben Disco beerdigt. Und meiner Meinung nach ist man immer so alt, wie man sich fühlt. Vorsicht.« Chris streckte die Hand aus und hielt Sam am Arm fest, und erst da wurde Sam klar, dass sie schwankte. »Ich versuche nicht, dich anzubaggern, nur damit du es weißt. Und jetzt bringe ich Sie in Ihre Wohnung, Officer.«
Mit Chris’ Arm, der sie stützte, fand Sam den Wohnungsschlüssel und schloss die beiden Bolzenriegel und das Türschloss auf. »Ich bin nicht lesbisch«, sagte sie dem Mädchen. »Und wenn ich es wäre, dann wärst du zu jung für mich.«
»Ich bin ja so erleichtert. War Keri deshalb so sauer auf dich?«
»Sie hatte das Recht dazu.« Sam konnte den Schlüssel nicht aus dem unteren Schloss ziehen. »Ich habe ihr nicht rechtzeitig signalisiert, dass ich nichts von ihr will. Nur, um die Gerüchte richtigzustellen.«
»Ich tratsche nichts rum, und so’n Scheiß passiert schnell, egal, ob man hetero oder schwul ist.« Chris schob die Tür für sie auf. »Du bist aber schon ein bisschen paranoid, oder?«
»Liegt am Job. Danke für die Hilfe.« Sie ging in ihr Badezimmer. Als sie das Schmerzmittel genommen hatte und wieder rauskam, stand Chris vor ihrem Bücherregal.
»Du stehst echt auf Gedichte«, meinte ihre Nachbarin. »Und ganz schön alt, das Zeug. Keats, Byron, Shelley. Wer ist Rainer Maria Rilke? Ist das ’n Typ oder ’ne Tussi?«
»Rilke ist der Einzige, der noch einen Sinn ergibt.« Sam öffnete die Schiebetür zum Balkon, um frische Luft hereinzulassen, dann ließ sie sich in ihren Lieblingssessel fallen und schob die Lehne nach hinten. »Er war ein Mann.«
»Dann hat seine Mutter ihm einen ziemlich dämlichen Namen gegeben. Ich wette, Keri hat deine Wohnung gehasst.« Sie blickte auf Sams schäbige Möbel. »Wie nennt man diesen Look? Früher amerikanischer Flohmarkt?«
Sam dachte darüber nach, dem Mädchen eine zu scheuern, aber sie stand zu weit weg, und Sam würde bis Thanksgiving nicht mehr aus diesem Sessel aufstehen. Vielleicht sogar erst Weihnachten. »Du willst doch bestimmt irgendwo hingehen, so aufgehübscht, wie du bist?«
»Runter zum Strand. Da kontrollieren die nicht so oft die Ausweise. Nicht, dass das ein Problem für so alte Ladys wie dich und mich wäre.« Sie zwinkerte Sam zu. »Es gibt einen neuen Gothic-Laden, den meine Freunde und ich uns anschauen wollen.«
»Das Infusion ?«
Jetzt starrte das Mädchen sie an. »Woher weißt du das?«
»Ich bin ein Cop, und das hier ist meine Stadt. Geh da nicht hin.« Sam presste ihre schmerzende Hand gegen ihre Brust. »Eine Frau, die vor ein paar Abenden da war, wurde ermordet.«
»Oh, ich kann schon auf mich aufpassen.« Chris stellte das Buch, in dem sie gelesen hatte, wieder zurück ins Regal und kam zu ihr herüber. »Herrje, du bist wirklich blass. Wie Schneewittchen aus dem Zwergenfilm. Soll ich ’n Krankenwagen rufen?«
»Nein. Mir geht’s gut. Ich habe ein bisschen Blut verloren, und es tut weh, das ist alles.« Das Schmerzmittel begann zu wirken, aber Sam zwang sich, Chris anzusehen. »Ich meine es ernst mit diesem Nachtclub. Da gibt es ein paar wirklich beängstigende Typen. Das ist kein Ort, an dem ein junges Mädchen rumhängen sollte.«
Noch ein Blitzlächeln. »Dann ist es ja gut, dass ich kein junges Mädchen bin.«
»Ich könnte mir deinen Ausweis zeigen lassen, um das zu überprüfen«, meinte Sam. »In unseren Mietverträgen steht, dass ein Untermieter mindestens einundzwanzig sein muss. Wir wollen doch nicht, dass Keri ihre Kaution verliert.«
Chris hielt die Hände hoch. »Okay, Gesetzeshüterin, ich gehe da nicht hin. Übrigens steckte der noch in der Tür.« Sie ließ Sams Schlüsselbund auf den Beistelltisch fallen. »Ich ziehe die Tür ins Schloss, wenn ich gehe. Hättest du was dagegen, wenn ich mir das Rilke-Buch mal leihe?«
»Solange du es zurückbringst.« Sams Augen schlossen sich von selbst. »Wenn nicht, erschieß ich dich.«
Das Letzte, was sie hörte, bevor sie einschlief, war das Kichern ihrer blauhaarigen Nachbarin.
Das Blut von zwei wunderschönen Menschenfrauen zu trinken, die zum Tanzen ins Infusion gekommen waren, brachte Lucan keine Befriedigung.
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