Darling, fesselst du schon mal die Kinder?: Das heimliche Tagebuch der Edna Fry
schön, um wahr zu sein. Stephen junior ist gerade früher aus der Theaterakademie nach Hause gekommen. Er ist aus der Weihnachtsaufführung rausgeflogen. Er hat einen Brief mitgebracht, und da steht drin, er zeige »ein Ausmaß an Gewalttätigkeit, das mit einer Institution des Bildungswesens ebenso unvereinbar ist wie mit Londons Unterwelt«. Mein armer Schatz ist ganz außer sich, aber ich könnte mir denken, dass sich Stephen diebisch freuen wird.
17. September, Samstag
Stephen schmollt heute Morgen. Ich hatte gestern Abend keine Lust, mich als Shaun das Schaf zu verkleiden, obwohl er mich schon ewig deswegen belämmert.
18. September, Sonntag
Hatte ein schlechtes Gewissen wegen neulich, also hab’ ich heute Morgen mein Dumbo-Kostüm angezogen. Jetzt führt sich Stephen schon wieder auf wie der Elefant im Porzellanladen.
19. September, Montag
Meine Güte! Gerade hat die Theaterakademie angerufen. Stephen junior ist wieder in die Aufführung aufgenommen worden. Und nicht nur das, er spielt jetzt Reggie Kray. Und Ronnie. Und ihre Mutter. Als ich fragte, was denn der Grund für diesen Sinneswandel sei, sagten sie bloß, sein Vater habe »ein gutes Wort eingelegt«. Sachen gibt’s, die gibt’s gar nicht.
20. September, Dienstag
Gestern haben wir uns nach der Schule mit Brangelinas neuer Lehrerin getroffen. Miss Campbell stellte sich als wahnsinnig nett heraus, als wir sie endlich im Materialienraum aufgestöbert hatten, wo sie sich mit einer Silk Cut zwischen den Lippen zusammenkauerte. Anscheinend hat sie erst kürzlich mit dem Rauchen angefangen, aber der neue Direx ist dagegen, dass der Lehrkörper in den Klassenzimmern raucht. Er sagt, die Kinder könnten unter dem Passivrauchen leiden, offenbar kennt er sie also noch nicht besonders.
Es ist nicht zu übersehen, dass sich Miss Campbell schon gut eingelebt hat, obwohl sie erst seit kurzer Zeit an der Schule ist. Der Materialienraum der Klasse ist eine richtige kleine Oase geworden mit den Kerzen, dem Panikschalter und den Bibelseiten, die die Wände bedecken. Sie freute sich offenbar, uns zu sehen, und sprang hoch wie von der Tarantel gestochen, als sie unsere Gesichter im Kerzenschein erblickte. Sie drückte ihre Zigarette im Sandkasten aus, und wir setzten uns an ihren Tisch. Stephen rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her. Plötzlich wieder in einer Bildungsanstalt zu sitzen, erinnerte ihn wohl daran, wie oft er eine Tracht Prügel bezogen hatte – aber ehrlich gesagt, finde ich nicht, dass ich ihn am Wochenende grober behandelt habe als sonst.
Miss Campbell sagte, sie habe uns in die Schule eingeladen, um uns ihre ersten Eindrücke von Brangelina mitzuteilen. Sie sagte, sie habe vor Beginn des Schuljahrs die Schulunterlagen aller Kinder gelesen, um sich über den Fortschritt ihrer schulischen Leistungen zu orientieren sowie über allfällige »Themen«, die »angesprochen« werden müssten. Brangelinas Akte sei dummerweise beim letzten Brand in der Schule vernichtet worden – anscheinend als einzige – und ihre früheren Lehrer seien außerstande gewesen, ihre Einschätzungen weiterzugeben, weil sie teils in den Vorruhestand gegangen seien und teils plötzliche und unerklärliche Unfälle und schwerste Entstellungen erlitten hätten – sie hätte daher das Gefühl, es sei eine gute Idee, sich ein paar »Hintergrundinformationen« über Brangelina zu besorgen.
Stephen saß die ganze Zeit schweigend neben mir und beäugte misstrauisch das Bücherregal, aber ich sagte, ich würde nur zu gern Fragen zu unserem kleinen Engel beantworten. Als sich Miss Campbell von einem kleinen Hustenanfall erholt hatte, zog sie ein maschinegeschriebenes Blatt aus der Schreibtischschublade und fing an.
Sie wollte alles Mögliche wissen, von Brangelinas Geburtsdatum über ihre Blutgruppe bis hin zu spezifischeren Fragen wie etwa Allergien; wie reagiere sie beispielsweise auf religiöse Kultstätten oder Artefakte?
Alles in allem war es ein richtig nettes und nützliches Treffen, und ich glaube, Miss Campbell sah das genauso, allerdings ließ sich das schwer sagen, weil sie überstürzt aufbrach. Ich glaube, sie sagte sinngemäß, sie wolle vor Einbruch der Nacht zu Hause sein.
21. September, Mittwoch
Abends Lyrikkurs. Die heutige Sitzung stand unter der Frage »Müssen Gedichte sich reimen?«. Miss Wordsmith entschuldigte sich dafür, eine so grob vereinfachende Frage zu stellen, aber sie hatte wohl schlicht nicht daran gedacht, was
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