Darling, fesselst du schon mal die Kinder?: Das heimliche Tagebuch der Edna Fry
Angeblich sieht er immer gleich aus. Er trägt einen langen gestreiften Pullover und eine Pudelmütze, und er kann einfach überall sein – hinter einem Baum stehen, sich in einer Gasse oder sogar hinter ihrem Schrank verstecken. Wenn Stephen ihr vordem Einschlafen doch bloß nicht immer dieses Wimmelbuch
Wo ist Walter?
vorlesen würde.
28. Oktober, Freitag
Heute ist die große Eröffnung oder Wiedereröffnung des Le Lion Rouge. Ich finde, es macht Stephen alle Ehre, dass er sich von seinen Vorurteilen frei machen und dem Etablissement wenigstens einen kurzen Besuch abstatten möchte. Ich habe ihm gesagt, ich fände das toll von ihm und es könne der
Entente cordiale
nur nützlich sein, aber er sagt, das kommt für ihn nicht in Frage, er hält sich an Bier.
29. Oktober, Samstag
Kein Zeichen von Stephen, seit er gestern Abend noch eine SMS geschickt hat, deren drei Worte so wenig und doch so viel sagten – meklili skaloo phadunk. Aber so ist Stephen eben. Nach einem halben Dutzend Pints wird er völlig unvorhersagbar.
30. Oktober, Sonntag
Noch immer keine Spur von Stephen, allerdings soll ein Mann, der zu seiner Beschreibung passt, im Botanischen Garten gesichtet worden sein, wo er einen Riesenfarn mit der »Marseillaise« besang.
31. Oktober, Montag
Halloween – die Nacht, in der
er
nach Hause kam. Gerade noch rechtzeitig. Mrs. Wintons Party begann um acht. Ich hatte ein mythologisches Thema gewählt und gab eine sensationelle Aphrodite ab, und Stephen war halb Mann und halb Tier, bis er dann sein Kostüm anzog. Der Höhepunkt des Abends kam, als Mrs. Norton und Mrs. Biggins beide als Medusa auftauchten. Wenn Blicke töten könnten …
November
1. November, Dienstag
Hatte heute Morgen Mühe, Stephen aus dem Bett zu bekommen. Er sagt, er fühlt sich nicht gut, der arme Schatz. Ich werd’ seine Symptome mal bei hypochondrie.com nachschlagen. Ich hoffe bloß, es ist nichts Ernstes – heute ist Bingo-Abend.
2. November, Mittwoch
Ein Jammer. Habe heute Morgen einen Brief vom Gemeinderat bekommen, der darauf besteht, dass ich mein kleines Ednaschereien-Unternehmen dichtmache – angeblich hat die Schule dagegen protestiert, weil meine »ungeniert kommerzielle Herangehensweise« einen unfairen Wettbewerb darstellt. Wo gibt’s denn so was? Ist es vielleicht meine Schuld, wenn sie mit ihren Mahlzeiten keine Treuekarten und kleine Plastikspielzeuge ausgeben? Mir tun bloß die Kinder leid. Wie sollen die denn jetzt die Sammelbilder meiner Ednajaden vervollständigen?
Stephen klagt, dass er sich heute noch schlechter fühlt. Seine Temperatur beträgt 37°, und sein Blutdruck liegt bei 120 zu 80. Jetzt gibt es keinen Zweifel mehr – er hat sich eine Erkältung geholt und will sie nicht wieder hergeben. Typisch Mann. Sieht ganz so aus, als müsste ich auf meinen Lyrikkurs verzichten und Florence Nightingale spielen. Bloß gut, dass ich noch Mütze und Lampe von unserem »Krasser Krimkrieg«-Abend habe.
3. November, Donnerstag
Du liebe Güte. Stephen ist anscheinend schlimmer dran, als ich wahrhaben wollte. Die Apothekerin meint, es könnte sogar ein richtiger Schnupfen sein. Ich sagte natürlich, dagegen gäbe es bekanntlich kein Heilmittel, aber sie lenkte meine Aufmerksamkeit auf ein kleines fluoreszierendes Päckchen in einer quietschbunten Auslage neben der Kasse. Sie sagte, Stemsip befinde sich zwar noch im Versuchsstadium, aber das Unternehmen, das das Präparat entwickle, engagiere sich für ethische Forschung und verzichte auf Tierversuche, daher werde es zeitlich befristet an die breite Öffentlichkeit abgegeben.
Ich nahm ein Päckchen und las den Beipackzettel:
1 Tütchen in Wasser auflösen und drei Tage lang alle vier Stunden nehmen oder wenn erforderlich.
Warnung: Kann zu Schläfrigkeit, Sehtrübungen, Kehlkopfentzündungen, Niesanfällen, Schwindelgefühlen, Dyslexie, irrationaler Aggressivität und vorzeitigem Tod führen.
Das schadet Stephen also auch nicht mehr als ein x-beliebiger Abend im Pub.
4. November, Freitag
Ach du meine Güte. Habe Stephen dreimal eine Dosis gegeben, aber wenn überhaupt, hat sich sein Zustand nur verschlechtert. Das Stottern und der Haarausfall sind jedenfalls neu. Sieht ganz so aus, als müsste ich ihm eröffnen, dass er den ersten Karaoke-Abend im Lion Rouge verpassen wird. Und das, wo er den Text von »Joe le Taxi« sicher beherrscht …
Frappierend! Kaum war mir das Wort »Karaoke« über die Lippen
Weitere Kostenlose Bücher