Darling, ich bin deine Tante Mame! - Roman
Bourbon. » Wie langweilig! Aber nach Hause fahren müssen wir sowieso. Auf, auf zu neuen Siegen. «
5. Kapitel
Tante Mame
und die Literatur
J ene unvergessliche Jungfer war auch nicht ohne literarisches Talent. Der Artikel hob hervor, dass sie früher kurze Texte über sich und ihren Alltag geschrieben hat, einfach so, aus Spaß. Sie zeigte sie ihren Freunden und überließ den einen oder anderen gelegentlich der Lokalzeitung zur Veröffentlichung. Diese kleinen Essays, hieß es, seien Meisterwerke. Sie waren sogar so gut, dass Verleger aus New York der alten Dame die Tür einrannten und sie anflehten, ihnen die Gunst zu gewähren, etwas von ihr drucken zu dürfen.
Ich persönlich finde nicht, dass man damit hausieren gehen sollte, bedenkt man, dass Tante Mame einen Verleger, einen Agenten und eine Sekretärin hatte, noch bevor sie auch nur eine einzige Zeile zu Papier gebracht hatte.
Tante Mames literarische Karriere wurde eher aus therapeutischen Gründen aufgenommen, um die tiefe Depression zu verarbeiten, in die sie als Witwe gestürzt war. Ihr Eheglück als Mrs. Beauregard Burnside hätte bis ans Ende ihrer Tage halten können, wenn nur Onkel Beau länger durchgehalten hätte.
Beau war charmant, viril, hübsch und reich, außerdem übertrieben großzügig. Aus Anlass ihres ersten Hochzeitstages kaufte Onkel Beau Tante Mame einige Geschenke, die sie immer an ihn erinnern sollten: eine Rolls-Royce-Limousine, einen Zobelpelz, einen Ring mit einem ungeschliffenen Smaragd und eine große alte Villa am Washington Square, um all die Möbel unterzubringen, die sie im Laufe der Zeit erworben hatte. Am Tag der Einweihungsfeier– dreizehn Monate nach ihrer Hochzeit– traf Onkel Beau ein poetisches Ende. Ein Pferd im Central Park trat ihn gegen den Kopf. Eine Stunde später war er tot.
Tante Mame wurde wahnsinnig vor Kummer. Während der Beerdigung und noch den ganzen nachfolgenden Winter hindurch weinte sie ununterbrochen und wurde ständig ohnmächtig. Nach einiger Zeit wurde sie immerhin nicht mehr ohnmächtig und weinte nur noch. Abgesehen von ihrer immensen Trauer interessierte sie sich für nichts– nicht mal die Tatsache, dass sie die neuntreichste Witwe in New York war. Zu guter Letzt nahm sich ihre alte Freundin Vera Charles ihrer an.
Vera war, ehelich betrachtet, in England auf eine Goldader gestoßen, als sie dort den Ehrenwerten Basil Fitz-Hugh heiratete. Der Ehrenwerte Basil war nicht nur reich, er war auch literarisch gebildet, er kannte sogar Virginia Woolf. Vera jedenfalls entschied, dass Tante Mame einen radikalen Tapetenwechsel brauchte. Sie verfrachtete sie nach Europa und hielt sie dort über zwei Jahre fest, während mich Mr. Babcock in St. Boniface und öden Ferienlagern kaltstellte.
Niemand jedoch kann ewig trauern, am wenigsten Tante Mame. Schließlich kam sie doch nach Hause, in modischer Witwenkleidung, mit vielen signierten Fotografien von europäischen Schriftstellern– die ihr alle geholfen hatten, die Tränen zu trocknen– und einem starken Verlangen nach einem » neuen Ventil « .
Ich war sechzehn und musste plötzlich feststellen, dass ich in die Höhe geschossen war, über eins achtzig Meter groß. Von den Schuluniformen passte mir keine einzige mehr, und so verbrachte ich die letzten Tage meiner Sommerferien auf dem Anprobepodest eines Schneiders stehend und ließ alle meine alten Hosen und Jacketts verlängern, um meinen Mitmenschen den Anblick jedes noch so geringen Stücks Wade oder Unterarm zu ersparen. Als die Änderungen fertig waren, blieb mir nicht mal mehr eine ganze Woche freie Zeit, bevor die Kirchenglocken von St. Boniface mich rufen würden zu einem weiteren Jahr mit Makkaroni und Tadeln. Ich hatte gehofft, Tante Mame würde die Gelegenheit nutzen und mich ins Theater ausführen und noch einiges andere mit mir unternehmen, was Spaß machen würde. Leider hatte ich mich geirrt.
Als ich die große Villa am Washington Square betrat, hörte ich eine scharfe Stimme sagen: » Das Ladies Home Journal würde solche Geschichten niemals abdrucken, Mrs. Burnside. «
Auf Zehenspitzen ging ich ins Wohnzimmer und sah Tante Mame dort in einem strengen schwarzen Kostüm sitzen, in der einen Hand einen Martini, in der anderen eine dicke schwarze Hornbrille. Auf ihrem Schoß lag ein Stapel Blätter, und sie unterhielt sich mit zwei Frauen, die ich noch nie gesehen hatte. » Für Hollywood wäre das natürlich ein gefundenes Fressen « , fuhr sie fort. » Erst dachte ich, die
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