Darling
Sachsenhausen, von einer Brücke oder dem Theodor-Stern-Kai ins Wasser gesprungen sein. Oder gefallen? Oder gestoßen?
Edith drehte sich zu ihrer Sekretärin um, die neugierig über ihre Schulter auf die Fotos linste.
„Die Schuhe sind trendy“, stellte Silke Müller mit Kennerblick fest. „Auch wenn sie billig aussehen. Meinen Sie nicht?“
Edith war im Gegensatz zu ihrer Sekretärin keine routinierte Schuhkäuferin. Es war ihr im Prinzip auch egal. Sie kaufte alle drei bis vier Monate ein paar gut sitzende, praktische, robuste Lederhalbschuhe, in denen sie problemlos laufen und stehen konnte und die zu ihren klassischen Hosenanzügen passten. Röcke waren der Kommissarin dagegen ein Gräuel. Sie empfand ihre Waden als zu dick. Deshalb waren auch Kleider passé. Die waren ihrer Meinung nach störender Firlefanz im Job. Punkt. Ihre Sekretärin zählte dagegen zu den Frauen, die sicher Hunderte von Schuhen inklusive der dazu passenden Kostüme und Blusen im Kleiderschrank hortete.
„Wie meinen Sie?“, fragte die Kommissarin.
„Die Kombination aus roten Stiefeletten und schwarzem Mini sieht nuttig aus“, stellte Silke Müller fachmännisch fest. Dann griff sie nach ihrer Kaffeetasse. „Ich geh dann mal mit en Kollegen von der Wirtschaftskriminalität Mittag machen“, sagte sie mit schnippischem Unterton und entschwand Richtung Kantine.
Edith blickte auf ihre Armbanduhr. Es war fast zwölf. Wie die Zeit heute Morgen verflogen war. Sie beugte sich seufzend über den Aktenberg, der in den vergangenen Wochen liegen geblieben war.
22
Adrian stieg ins Taxi und schaltete das Radio ein. Auf HouseMusik von SkyFM hatte er bei Tageslicht keine Lust. Auf FFH lief „Glaubst du mir“ von Sabrina Setlur. Er mochte den Song der Rödelheimerin immer noch.
Annika hatte sich immer wieder über seinen Musikgeschmack lustig gemacht. Auch das war ein Grund, warum Adrian dem Taxifahren viel abgewinnen konnte. Wenn er allein im Wagen saß, genoss er die Musik, die ihm gefiel und zu Frankfurt passte. Denn die Stadt pulsierte, trieb an. Trotz aller Kälte und Oberflächlichkeit vermittelte sie ihm eine Art Lebensgefühl, das sich aus einer ständigen Bewegung heraus speiste. Da Annika immer öfter Witze über seine Gefühle machte, vermied er es zunehmend, mit ihr über seine Gedanken zu reden.
Einem Impuls folgend schaltete er zu den Nachrichten von Radio FFH. Kaum war der Jingle verklungen, ratterte der Moderator im Stakkato durch die Schlagzeilen des Tages.
„Junge Frau begeht Selbstmord in Griesheimer Schleuse. Tarifverhandlungen zwischen Transnet und Bahn ins Stocken geraten. Und jetzt das Wetter. Es bleibt auch die nächsten Tage trüb und regnerisch bei sechs bis acht Grad.“
Adrian fühlte das Blut heftig durch seine Ohren pulsieren. Selbstmord in der Griesheimer Schleuse. Der Satz hatte ihn erstarren lassen. Intuitiv fühlte er, dass damit Patricia gemeint war. Nur dass es definitiv kein Selbstmord war. Seine Gedanken schweiften zurück zur vergangenen Nacht. Er wollte verdammt noch mal die quälenden Bilder aus seinem Kopf bekommen.
In seiner Hosentasche brannte das Amulett wie Feuer. Als er den silbernen Handy-Schmuck herauszog, empfand er den Engelsflügel plötzlich als Kompass seines Lebens.
Abrupt wendete er das Taxi an der Schönen Aussicht und fuhr am Mainufer Richtung Westhafen. Er würde Clara Sander zur Rede stellen. Sie sollte mit ihm zur Polizei gehen und aussagen. Denn der Tod des Mädchens war kein Selbstmord. Adrian war fest entschlossen, der Wahrheit ans Tageslicht zu verhelfen.
23
„Fuzzi! Komm sofort her!“ Laut kläffend war der Zwergpudel die Treppe hoch in den ersten Stock gefegt, nachdem Anneliese Schulz die Haustür von Karls Wohnung aufgeschlossen hatte. Der Köter ging ihr heute mächtig auf den Zeiger. Was war nur mit dem Hund los?
„Karl?“
Totenstille umfing die fürsorgliche Nachbarin im Flur von Karl Blums Häuschen in der Kuhwaldsiedlung. Der Teppich kräuselte sich in breiten Wellen vor der Treppe, die nach oben führte. Was für eine Unordnung, wunderte sich Anneliese und zog den Läufer glatt. Dann schüttelte sie die Teppichfransen akkurat in Reih und Glied. Zufrieden ging sie in die Küche. Auf dem Tisch lag eine angebrochene Packung Zwieback neben ein paar Teebeuteln. Auf der Spüle stand der sichtlich unbenutzte Wasserkocher.
Merkwürdig, wunderte sich Anneliese. Karl trank Tee wirklich nur, wenn er ernsthaft erkrankt war.
„Karl? Karl!“, rief sie durchs
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