Darling
mühsam von ihrem Stuhl.
„Als ob die alle mit dem Sterben in dieser Stadt nur darauf gewartet haben, dass ich wieder an meinem Platz bin“, brummte die Kommissarin missmutig Richtung Fensterfront. Dann griff sie nach ihrem dicken Wollmantel und schaute Stefan erwartungsvoll an.
„Kommst du mit?“
31
Während der Fahrt in die Kuhwaldsiedlung erreichte Edith Sissi auf ihrem Handy.
„Hallo. Was für eine Überraschung“, freute sich die Taxichefin. „Du willst mir doch nicht jetzt schon unser Date absagen?“
Edith schüttelte den Kopf.
„Sissi, ich rufe dienstlich an. Es geht um einen deiner Fahrer. Karl Blum.“
„Karl? Was ist mit ihm?“ Sissi stutzte. „Karl ist seit gestern Abend krank. Magen-Darm-Geschichte oder so.“ Edith holte tief Luft.
„Sissi, Karl Blum ist tot. Wir haben eben die Nachricht aus der Rechtsmedizin bekommen.“
Am anderen Ende der Leitung hörte sie ein langes, betroffenes Schweigen.
„Ich muss mich erst mal setzen, Edith“, stotterte sie geschockt ins Telefon.
„Mein Beileid, Sissi. Ich bin mit der Spurensicherung jetzt auf den Weg zur Wohnung des Toten. Wenn du willst, melde ich mich heute Abend noch mal bei dir. Okay?“
Sissi nickte. Es dauerte einen Moment, bis die Taxichefin realisierte, dass sie allein in der Leitung war. Die Nachricht von Karls Tod hatte sie tief getroffen. Er war einer ihrer zuverlässigsten Fahrer und mit den Jahren auch eine Art Freund geworden. Wie konnte so einem netten Kerl nur so etwas Furchtbares zustoßen?
Für einen Moment überlegte Sissi, an welchen der Fahrer sie ihre Schicht delegieren könnte. Denn sie war entschieden. Sie wollte in den Kuhwald. Vor fünf Jahren hatte Karl sie zu seinem 50. Geburtstag nach Hause eingeladen. Eine Feier im kleinen Kreis, ein paar Taxikollegen, Karls damals schon schwerkranke Mutter, zwei, drei Bekannte aus der Nachbarschaft. Es war ein netter Abend mit Würstchen, Kartoffelsalat und Bier gewesen.
Dass dieser bescheidene, freundliche Mensch, der sein ganzes Leben in dieser Siedlung hinter der Messe gelebt hatte, jetzt tot sein sollte, das erschien Sissi Wagner absolut unfassbar.
32
Die Zeiger an der Bahnhofsuhr schlichen Millimeter um Millimeter vorwärts. Adrian langweilte sich. Wie schon gestern blieben auch heute die Fahrgäste aus.
Seine Gedanken kreisten um Clara und den grausamen Tod von Patricia. Vielleicht wäre es klug, früh Feierabend zu machen und zu Enzo zurückzufahren. Die Alternative wäre Annika, um in ihrer Wohnung endgültig seine Sachen zu packen. Adrian war unschlüssig. Lust auf die Neuauflage der unendlichen Debatte, warum er so ein Loser sei, hatte er nicht. Es war klüger, sich etwas Frisches aus Enzos Kleiderschrank auszuborgen. Sein Kumpel hatte ungefähr seine Kleidergröße und sicher nichts dagegen, wenn er nächste Woche eine Jeans und ein Hemd mehr im Wäschekorb finden würde.
„Sissi, ich mach für heute Schluss. Es ist nix los am Hauptbahnhof.“
Adrian hielt die Tasten am Funksprechgerät gedrückt.
„Geht klar, Adrian“, antwortete eine Männerstimme aus dem Lautsprecher. „Sissi ist auch schon nach Hause.“
Adrian startete den Mercedes und verließ den Bahnhofsvorplatz am Hauptbahnhof Richtung Ostend. Wenn ihm vor 24 Stunden jemand prognostiziert hätte, dass sich sein Leben innerhalb einer Nacht so radikal verändern würde, hätte er es sicher nicht geglaubt.
Wie ausgestorben lag die Sonnemannstraße vor ihm. Dunkel und wuchtig schob sich die alte Großmarkthalle zwischen Main und Ostend. Am sogenannten Arbeitsstrich vor der Halle fand Adrian problemlos einen Parkplatz. Hier warteten morgens ab vier Russen, Letten, Litauer oder Rumänen, um für drei bis vier Euro die Stunde von vorbeiziehenden Arbeitgebern als billige Tagelöhner mitgenommen zu werden. Trotz diverser Razzien löste sich die Meile seit Sommer 2004 nur langsam auf, nachdem der Frankfurter Gemüsegroßmarkt ins Frischezentrum nach Kalbach verlagert worden war. Seitdem stand der wuchtige, von Martin Elsässer entworfene Bau leer. Mit 220 Metern Länge und 50 Metern Breite hatte die größte freitragende Halle Europas seit 1928 mehreren Generationen von Obstverkäufern und Gemüsegroßhändlern Platz zum Handeln geboten.
Adrian erinnerte sich an seine Schulzeit. In den neunziger Jahren war an der Großmarkthalle eine Gedenktafel angebracht worden, um an die Opfer des Holocaust zu erinnern. Denn das Bauwerk war von 1941 bis 1945 Sammelpunkt für zigtausende Juden aus Frankfurt
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