Darwin - Das Abenteuer Des Lebens
natürlicher Auslese deckt.
Ich habe niemals ein auffallenderes Zusammentreffen gesehen; wenn Wallace meinen handschriftlichen Sketch aus dem Jahre 1842 hätte, hätte er keinen besseren kurzen Auszug machen können! Selbst seine Begriffe stehen jetzt als Überschriften über meinen Kapiteln. Darwin ist am Boden. Jahrelang hat ein anderer parallel die gleichen Gedanken gedacht, die gleichen Beispiele gesammelt, die gleichen Argumente erwogen. Und dafür hat er nicht nach Galápagos gemusst. Wallaces Inseln liegen in Südostasien. Dort lassen sich ähnliche Phänomene studieren und dieselben Prinzipien erkennen.
Wenn sich in der Evolution unabhängig voneinander gleiche Strukturen bilden, etwa das Linsenauge von Tintenfisch und Säugetieren, dann sprechen Biologen von »Konvergenz«. Schon Darwin versteht sie als eigenständigen Vorgang. Anders als bei der Divergenz, wo zwei vormals verbundene Arten mit ihren Eigenschaften auseinanderweichen, treffen sich bei der Konvergenz zwei Eigenschaften, ohne dass die Arten irgendeine biologische Nähe hätten. Nicht nur aus der Biologie sind unzählige Beispiele bekannt. Kulturelle Konvergenzen kommen vermutlich noch viel häufiger vor.
Für bestimmte Probleme gibt es nur bestimmte Lösungen. So sind Hausbau, Ackerbau und Viehzucht oder auch die Schrift und unzählige andere Techniken während der Menschheitsgeschichte mehrfach erfunden worden. Ständig haben Leute unabhängig voneinander die selben Eingebungen. Aber dass sich eine radikal neue Idee wie die natürliche Auslese so identisch zweimal entwickelt, ragt aus der Wissenschaftsgeschichte heraus.
Wie kann sich ein so vielschichtiger Gedankengang gleich in zwei Köpfen abspielen? Reiner Zufall? Oder hing die Theorie wie eine reife Frucht am Baum, zum Pflücken bereit? Dass Wallace sich die gleichen Fragen stellt wie viele seiner Zeitgenossen, kann niemanden überraschen. Dass Darwin ein anderer zuvorgekommen ist, hat der Zauderer sich indes ganz allein selber zuzuschreiben.
Im Revolutionsjahr 1848 - Darwin verliert seinen Vater und schnipselt unterm Mikroskop winzige Rankenfüßer auseinander - bricht der fünfundzwanzigjährige Sohn eines verarmten Anwalts von Liverpool auf Richtung Brasilien. Als achtes von neun Kindern hat
Wallace mit dreizehn die Schule verlassen müssen. Seine weitere Bildung verschafft er sich in Bibliotheken. Seine Leseliste führt einige alte Bekannte auf: Das Buch des Anonymus, das den Evolutionsgedanken außerhalb der Wissenschaft hoffähig gemacht hat, beeindruckt ihn zutiefst. Ebenso Humboldt, Lyell und - Darwin. Dessen Reisebericht liest er gleich zweimal. Die Lektüre verstärkt seinen Wunsch, selber Naturforscher zu werden.
Natürlich weiß der ehrgeizige junge Mann nicht, woran der bewunderte Weltreisende gerade arbeitet. Doch ist es durchaus möglich, dass er dessen Versuchsballons aufgefangen hat. So könnten Darwins Finken und seine Kommentare einen ungeahnten Effekt auf die Ideengeschichte gehabt haben. Vor allem hat sich Wallace mit dem Werk von Thomas Malthus auch eine Quelle erschlossen und die gleiche, eigentlich naheliegende Frage gestellt wie Darwin: Kann man den Kampf ums Überleben bei Nahrungsknappheit, den Malthus der Menschheit prophezeit, nicht auf die übrige Natur übertragen?
Aus den geplanten zwei Jahren im Amazonasbecken werden vier. Da Wallace nicht über die Mittel verfügt wie Darwin, muss seine Reise die Kosten einspielen. Seine Ausbeute will er nach seiner Rückkehr an Museen und wohlhabende Freunde seltener Naturerzeugnisse verkaufen. Er schießt, was ihm vor die Flinte kommt, sammelt, so viel er verstauen kann, und leistet ganz nebenher einen bedeutenden Beitrag für die Wissenschaft, indem er Hunderte unbekannter Arten entdeckt. Doch dann passiert das Unfassbare: Das Schiff, auf dem er voll beladen endlich Richtung Heimat zurücksegeln darf, fängt Feuer und sinkt. Mit Müh und Not kann er sich auf ein Beiboot retten. Seine gesamte Sammlung geht verloren. Nur ein paar Notizbücher bleiben ihm.
Wallace hat nun nichts zu verkaufen, aber viel zu berichten. Er publiziert über Vögel, Schmetterlinge und »Über die Affen des Amazonas«. Darin macht er eine interessante Bemerkung: Die einundzwanzig Affenarten, die er gesichtet hat, unterscheiden sich jeweils auf den zwei Seiten großer Flussarme. Die Gewässer wirken als Barriere genau wie in Darwins Modell. Wallace spricht von »nahe verbundenen Arten«. Er macht sich einen Namen als Naturforscher und
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