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Das 1. Buch Des Blutes - 1

Das 1. Buch Des Blutes - 1

Titel: Das 1. Buch Des Blutes - 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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blieb frontal vor der Wand stehen. Die kalte Luft ging ihm bis ins Mark, und die Stummel seiner Daumen juckten und brannten zum verrücktwerden. Er zog die Handschuhe aus und lutschte, heftig.
    »Schau mich an. Dreh dich um und schau mich an«, sagte die liebenswürdige Stimme.
    Was sollte er jetzt tun? Wieder rückwärts aus dem Korridor hinaus und eine andere Route einschlagen, war vermutlich das Beste. Er mußte bloß im Kreis herumwandern, unbeirrbar seine Runden drehen, bis er seine Sicht der Sache für seinen Verfolger stichhaltig genug dargelegt hatte, damit dieser von ihm abließ.
    Als er dastand und mit den ihm zur Verfügung stehenden Alternativen herumjonglierte, spürte er einen leichten Schmerz im Hals.
    »Schau mich an«, sagte die Stimme abermals.
    Und die Kehle wurde ihm zugeschnürt. Seltsam, in seinem Kopf war ein Knirsch- oder Mahlgeräusch, das Geraspel gegeneinander schürfender Knochen. Es fühlte sich an, als ob ein Messer in seiner Schädelbasis festgerammt würde.
    »Schau mich an«, sagte die Hölle ein letztes Mal, und Burgess’ Kopf drehte sich um.
    Sein Körper nicht. Der blieb, wie er stand, frontal vor der nackten Wand der Sackgasse.
    Aber sein Kopf, sich hinwegsetzend über Vernunft und Anatomie, kurbelte herum auf seiner schlanken Achse. Burgess würgte, während die Stränge seines Schlundes sich zu einem Fleischseil zusammendrehten, seine Wirbel sich zu Pulver, seine Knorpel sich zu Faserpampe ineinanderschraubten. Seine Augen bluteten, seine Ohren platzten heraus, und er starb, den Blick auf jenes sonnenlose, ungezeugte Gesicht gerichtet.
    »Ich sagte doch, du sollst mich anschaun«, sprach die Hölle und ging ihres bittren, bösen Wegs. Sie ließ ihn dort stehen: ein schönes Paradoxon, das die Demokraten finden sollten, wenn sie geschäftig und geschwätzig hereinströmten in den Palast von Westminster.
    Mein Gott, dachte sie, das ist doch kein Leben. Tagein, tagaus: der Stumpfsinn, die Schinderei, der Frust.
    Gott im Himmel, flehte sie, laß mich raus hier, gib mich frei, schlag mich ans Kreuz, wenn’s unbedingt sein muß, aber hol mich raus aus diesem Elend.
    Statt seiner allergnädigsten Sterbehilfe nahm sie an einem trübsinni-gen Tag Ende März eine von Bens Rasierklingen, schloß sich ins Badezimmer ein und schlitzte sich die Pulsadern auf.
    Ben war draußen vor der Badtür, schwach hörte sie ihn durch das dröhnende Pochen in ihren Ohren.
    »Bist du da drin, Schatz?«
    »Geh weg«, glaubte sie zu sagen.
    »Bin heut’ früher daheim, Süße. War wenig Verkehr.«
    »Bitte, geh weg.«
    Der Kraftaufwand bei dem Versuch zu sprechen ließ sie von der Klosettbrille abrutschen, hinunter auf den weißgekachelten Boden, wo bereits Lachen ihres Blutes kalt wurden.
    »Schatz!?«
    »Geh.«
    »Schatz.«
    »Weg.«
    »Bist du okay?«
    Jetzt rüttelte er an der Tür, die miese Ratte. Kapierte er nicht, daß sie sie nicht aufmachen konnte, nicht aufmachen wollte?
    »Gib Antwort, Jackie.«
    Sie stöhnte. Konnte es nicht unterdrücken. Der Schmerz war nicht so schrecklich, wie sie erwartet hatte, aber sie fühlte sich scheußlich, als ob man ihr gegen den Kopf getreten hätte. Und doch könnte er sie nicht mehr rechtzeitig erwischen, nämlich jetzt. Selbst wenn er die Tür zertrümmerte nicht.
    Er zertrümmerte die Tür.
    Sie schaute hinauf zu ihm, durch eine Luft, die von Tod so dicht gesättigt war, daß man sie hätte schneiden können.
    »Zu spät«, glaubte sie zu sagen.
    Aber das war es nicht.
    Mein Gott, dachte sie, Selbstmord kann das doch nicht sein. Ich bin nicht gestorben.
    Der Arzt, den ihr Ben besorgt hatte, war von allzu ausgesuchter Nettigkeit. Nur das Beste, hatte Ben versprochen, nur das Allerbeste für meine Jackie.
    »Es gibt nichts«, versicherte ihr der Arzt, »das wir nicht wieder hinbiegen könnten, mit ein bißchen Geduld und Spucke.«
    Warum gibt er’s nicht einfach zu? dachte sie. Es ist ihm schnurzegal.
    Er hat keine Ahnung, wie das ist.
    »Mit diesen Frauenproblemen hab’ ich laufend zu tun«, vertraute er ihr an, und triefte förmlich vor praktiziertem Mitleid. »Um eine bestimmte Altersstufe rum nimmt das geradezu epidemische Ausmaße an.«
    Sie war noch keine Vierzig. Was wollte er ihr da einreden? Daß sie vorzeitig ins Klimakterium käme?
    »Depressionen, teilweises oder totales Sich-Abkapseln, Neurosen in jeder Form und Intensität. Sie sind da nicht allein, glauben Sie mir.«
    O doch, dachte sie. Ich bin hier in meinem Kopf, ganz für mich, und du hast

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