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Das 2. Buch Des Blutes - 2

Das 2. Buch Des Blutes - 2

Titel: Das 2. Buch Des Blutes - 2 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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gehört? Natürlich, Lichfields Frau.
    »Sie war eine wunderbare Viola.«
    Er war zu müde für dieses Rumgeschmachte über tote Schauspielerinnen. Sie war doch tot, oder? Er hatte gesagt, sie ist tot, oder?
    »Wunderbar«, sagte Tallulah nochmals.
    »Gute Nacht, Tallulah! Bis morgen!«
    Die alte Schreckschraube antwortete nicht. Wenn sie wegen seiner brüsken Tour beleidigt war - bitteschön! Er überließ sie ihrem Gemäkle und trat auf die Straße hinaus.
    Es war Ende November und frostig kühl. Kein Balsamduft in der Nachtluft, nur der Teergeruch einer frisch asphaltierten Straße und Sandpartikel im Wind. Calloway stellte den Jackenkragen auf und eilte fort zu Murphys Garni, einer ziemlich fragwürdigen Zufluchtsstätte.
    Im Foyer kehrte Tallulah der Kälte und Dunkelheit da draußen den Rücken zu und schlurfte in den Tempel der Träume zurück. Er roch jetzt so todmüde: muffig von Abnutzung und Alter wie ihr eigener Körper. Es war an der Zeit, den natürlichen Prozessen ihren Tribut zu zollen; es hatte keinen Zwei, die Dinge über die ihnen zugeteilte Lebensspanne hinausschieben zu lassen. Auf Gebäude traf dies genauso zu wie auf Menschen. Aber das Elysium sollte so sterben, wie es gelebt hatte, in Glanz und Gloria.
    Ehrerbietig zog sie die roten Vorhänge zurück, die die Porträts in dem Gang bedeckten, der vom Foyer zum Parkett führte, Barrymore, Irving: große Namen und große Schauspieler, fleckige und verblaßte Bilder vielleicht, aber die Erinnerungen waren so klar und erfrischend wie Quellwasser. Und am Ehrenplatz, als letztes in der Reihe, ein Porträt von Constantia Lichfield. Ein Gesicht von überirdischer Schönheit; eine Figur und Gelenke, um einen Anatom in Tränen der Rührung ausbrechen zu lassen.
    Freilich war sie für Lichfield viel zu jung gewesen, und das hatte auch zu der ganzen Tragödie mit beigetragen. Lichfield der Svengali, ein Mann, doppelt so alt wie sie, war in der Lage gewesen, seiner strahlenden Schönen alles zu geben, was sie begehrte: Ruhm, Geld, Gesellschaft. Alles bis auf die Gabe, derer sie am meisten bedurfte: das Leben selbst.
    Sie starb, noch bevor sie zwanzig war, an Brustkrebs. So jäh hinweggerafft, daß es noch immer schwerfiel zu glauben, daß sie dahin war.
    Tallulahs Augen füllten sich mit Tränen, als sie sich an dies verlorene und ungenützte Genie erinnerte. So vielen Rollen hätte Constantia, wäre sie verschont geblieben, Glanz verliehen: Cleopatra, Hedda, Rosalind, Elektra…
    Aber es sollte nicht sein. Sie war dahingeschieden, ausgelöscht wie eine Kerze im Orkan, und für die Hinterbliebenen wurde das Leben ein langsamer und freudloser Marsch durch ein kaltes Land. Manchmal morgens, wenn sich der neue Tagesanbruch langsam regte, drehte sich Tallulah auf die andere Seite und betete darum, im Schlaf zu sterben.
    Die Tränen blendeten sie jetzt völlig, ihr Gesicht war klitschnaß. Und, mein Gott, da stand jemand hinter ihr, wahrscheinlich Mr. Calloway, der noch irgendwas wollte - und sie hier, beinah aufgelöst vor Schluchzen, benahm sich wie die dämliche Alte, für die er sie, wie sie gut wußte, hielt. Was verstand ein junger Mann wie er von der Qual der Jahre, vom tiefen Schmerz unwiederbringlichen Verlustes? Dies würde noch eine Weile auf sich warten lassen. Nicht so lang, als er dachte, aber trotzdem noch eine Weile.
    »Tallie«, sagte jemand.
    Sie wußte, wer es war. Richard Waiden Lichfield. Sie drehte sich um, und er stand keine zwei Meter von ihr entfernt, nach wie vor die vornehme Erscheinung eines Mannes, wie sie ihn seit je in Erinnerung hatte. Er mußte zwanzig Jahre älter sein als sie, schien aber vom Alter ungebeugt. Sie schämte sich wegen ihrer Tränen.
    »Tallie«, sagte er freundlich, »ich weiß, es ist ein bißchen spät, aber ich war der Meinung, du würdest sicher noch gern guten Tag sagen.«
    »Guten Tag?«
    Die Tränen versiegten, und jetzt sah sie Lichfields Begleitperson. Sie stand, teilweise im Dunkeln, ungefähr einen ehrerbie-tigen halben Meter hinter ihm. Die Gestalt trat aus Lichfields Schatten heraus, eine leuchtende, zartgelenkige Schönheit, die Tallulah so unschwer erkannte wie ihr eigenes Spiegelbild. Die Zeit brach in Stücke, und die Vernunft entfloh der Welt.
    Ersehnte Gesichter waren plötzlich wieder da, um die leeren Nächte zu erfüllen und einem müde gewordenen Leben neue Hoffnung anzubieten. Warum sollte sie an der Beweiskraft ihrer Augen zweifeln?
    Es war Constantia, die strahlenschimmernde Constantia,

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