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Das 3. Buch Des Blutes - 3

Das 3. Buch Des Blutes - 3

Titel: Das 3. Buch Des Blutes - 3 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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andere ließ sich zu keiner Antwort herab.
    »Ziemlich genau da, wo das Einschußloch ist«, sagte Lenny, noch immer in Bewunderung für Ronnies Killer versunken.
    Die Biene lauschte. Das Einschußloch war bloß eines von vielen Löchern in seinem Leben. Löcher, wo seine Frau und seine Kinder hätten sein sollen. Löcher, die wie blinde Augen aus den Magazinseiten zu ihm aufzwinkerten, rosa und braun und haarlippig. Löcher rechts von ihm, Löcher links …
    Konnte es sein, daß er hier - endlich - ein Loch gefunden hatte, das er sich zunutze machen konnte? Warum nicht über die Wunde hinausgelangen ?
    Sein Geist riß sich zusammen und steuerte auf seine Stirn los: In einer Mischung aus Beklommenheit und Erregung durchkroch er die Großhirnrinde. Weiter vorn konnte er das Ausgangstor wahrnehmen - wie das Licht am Ende eines langen Tunnels. Außerhalb des Lochs erstrahlten Kette und Schuß seines Leichentuchs wie ein verheißenes Land. Sein Richtungssinn war gut; das Licht nahm zu, während er kroch, die Stimmen wurden lauter. Ohne großes Trara spie Ronnies Geist sich selbst in die Außenwelt: ein minimales Ausschwitzen von Seele. Die winzigen Flüssigkeitspartikel, die seinen Willen und sein Bewußtsein beförderten, wurden von dem Leichenlaken aufgesaugt wie Tränen von einem Tempotaschentuch.
    Sein physisch greifbarer Leib war jetzt vollends ausgestorben; eine eisige Masse, nur noch für die Flammen tauglich.
    Ronnie Glass exis tierte in einer neuen Welt: einer weißleinenen Welt, die mit keiner bisher von ihm erlebten oder geträumten Seinsweise vergleichbar war.
    Ronnie Glass war sein Leichentuch.
    Wäre Ronnies Pathologe nicht vergeßlich gewesen, dann wäre er nicht in diesem Moment in die Leichenhalle zurückgekommen, um hier nach dem Notizbuch, in das er die Telefonnummer der Glass-Witwe geschrieben hatte, zu suchen; und wäre er nicht zurückgekommen, wäre er am Leben geblieben. Aber so wie die Dinge lagen …
    »Habt ihr mit dem noch nicht angefangen?« schnauzte er die Gehilfen an.
    Sie murmelten irgendeine Entschuldigung. In den Abendstunden war er immer gereizt; sie waren seine kindischen Ausbriiche gewöhnt.
    »Na, macht schon«, sagte er, streifte dabei das Leichentuch von dem Körper und warf es verärgert zu Boden, »bevor der Kacker voll Grausen hier rausmarschiert. Wollen doch unser kleines Hotel nicht in Verruf bringen, hab’ ich recht?«
    »Nein, Sir. Das heißt, ja, Sir.«
    »Also, dann steht nicht rum! Packt ihn schon zusammen! Da is’ ‘ne Witwe, die ihn so bald wie möglich weghaben will. Was ich von ihm sehn muß, hab’ ich gesehn.«
    Ronnie lag in einem zerkrumpelten Haufen am Boden und durchwirkte langsam dieses neugefundene Terrain nach allen Seiten mit seinem Einfluß. Es fühlte sich gut an, einen Körper zu haben, selbst wenn er steril und rechteckig war. Unter gezielter Anwendung einer Willenskraft, von der er nicht gewußt hatte, daß er sie besaß, brachte Ronnie das Leichentuch voll unter seine Kontrolle.
    Dieses verweigerte zunächst das Leben. Immer war es passiv gewesen; das war sein Grundzustand. An eine Besetzung durch Geister war es nicht gewöhnt. Aber Ronnie ließ sich jetzt nicht unterkriegen. Sein Wille war eine Befehlsgewalt: Entgegen allen Regeln natürlichen Verhaltens straffte und verknotete sie das widerspenstige Leinen zu einer Scheingestalt von Leben.
    Das Leichentuch erhob sich.
    Der Pathologe hatte sein kleines schwarzes Buch gefunden und war gerade dabei, es einzustecken, als die weiße Stoffbahn sich ihm ausgebreitet in den Weg stellte und sich streckte wie ein Mann, der soeben aus tiefem Schlaf erwacht ist.
    Ronnie versuchte zu sprechen. Aber die einzige Stimme, die ihm zu Gebot stand, war ein in die Luft gehauchtes Flüstern des Tuchs, zu leicht, zu immateriell, um die Klagen erschrockener Männer zu übertönen. Und erschrocken waren sie. Der Pathologe rief zwar um Beistand, aber niemand kam. Lenny und sein Genösse entwischten Richtung Schwingtür. Ihre offenstehenden Münder lallten flehentliche Bitten an jeden ortsgebundenen Gott, der zuhören mochte.
    Von allen Göttern verlassen, zog sich der Pathologe hinter den Obduktionstisch zurück.
    »Geh mir aus den Augen«, sagte er.
    Ronnie umarmte ihn fest.
    »Hilfe«, sagte der Pathologe beinah zu sich selber. Aber Hilfe war keine mehr da. Die lief, noch immer lallend, die Gänge hinunter und sah zu, daß ihr das in der Leichenhalle stattfindende Wunder nur ja im Rücken blieb. Der Pathologe war

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