Das 4. Buch des Blutes - 4
noch die Knoten.
Manchmal erwachte er mitten in der Nacht und spürte, wie sich die Schnur unter seinem Kissen bewegte. Ihre Gegenwart war tröstlich, ihre gierige Ungeduld weniger – weckte sich doch in ihm, sobald sie sich regte, ein ähnliches Verlangen. Er wollte die verbliebenen Knoten berühren und die Rätsel, die sie bereithielten, untersuchen. Aber das hieße, wie er wohl wußte, die Kapitulation herauszufordern; vor der eigenen Faszination, vor ihrem Hunger nach Erlösung. Sobald er in Versuchung kam, zwang er sich dazu, sich an den Fußpfad zu erinnern und an die Bestie in den Bäumen; zwang sich dazu, die peinigenden Gedanken wieder wachzurufen, die sich mit dem Atem der Bestie eingestellt hatten. Dann widerrief, nach und nach, erinnerte Bedrängnis gegenwärtige Neugier, und er ließ die Schnur dort, wo sie lag. Aus den Augen, doch selten aus dem Sinn.
So gefährlich die Knoten seiner Erfahrung nach auch waren, er brachte es einfach nicht über sich, sie zu verbrennen.
Solange er dieses bescheidene Stückchen Schnur besaß, war er einzigartig; es preiszugeben, rupfe, sein bis dato nichtssagendes Stadium wiederaufzunehmen. Dazu war er nicht bereit wenngleich er den Verdacht hatte, daß sein täglicher und intimer Umgang mit der Schnur seine Fähigkeit untergrub, ihrer Verführung zu widerstehen.
Von dem Wesen im Baum sah er nichts. Er begann sich sogar zu fragen, ob er sich die ganze Konfrontation nicht nur eingebildet habe. Und tatsächlich, auf längere Sicht hätte sein Talent, die Wahrheit einfach wegzuerklären, möglicherweise wirklich den Sieg davongetragen. Aber Ereignisse im Anschluß an die Einäscherung von Catso machten Schluß mit dieser bequemen Alternative.
Karney war allein zur Beisetzung gekommen und – trotz der Anwesenheit von Brendan, Red und Anelisa – auch wieder allein gegangen. Er hatte wenig Verlangen, mit irgendeinem der Trauergäste zu sprechen. Welche Worte er auch einst zur Umschreibung der Ereignisse gehabt haben mochte, es fiel ihm im Lauf der Zeit immer schwerer, sie wiederzuerfinden. Ehe sich ihm irgend jemand nähern und ihn ansprechen konnte, eilte er vom Krematorium fort, den Kopf gesenkt gegen den staubigen Wind, der den ganzen Tag schon in raschem Wechsel bewölkte und strahlend sonnige Abschnitte gebracht hatte. Unterm Gehen fummelte er in seiner Tasche nach einer Packung Zigaretten. Die Schnur, die hier wie immer wartete, begrüßte seine Finger auf ihre übliche einschmeichelnde Art.
Er machte sich von ihren und nahm die Zigaretten heraus, aber bei dem forschen Wind gingen die brennenden Zündhölzer gleich wieder aus, und Karneys Hände schienen außerstande, so etwas Simples wie das Abschirmen einer Flamme zuwege zu bringen. Er schlenderte noch ein Stückchen weiter, bis er eine Seitengasse fand, und bog hinein, um sich eine Zigarette anzuzünden. Pope war da und wartete schon auf ihn.
»Hast du Blumen geschickt?« fragte der Penner.
Instinktiv wollte Karney sich umdrehen und losrennen. Aber die sonnenhelle Straße war nur Meter entfernt; er war hier nicht in Gefahr. Und ein paar Worte mit dem Alten konnten sich als aufschlußreich erweisen.
»Keine Blumen?« sagte Pope.
»Keine Blumen«, erwiderte Karney. »Was machen Sie hier?«
»’s gleiche wie du«, antwortete Pope. »Bin gekomm’, um den Jungen brennen zu sehn.« Er grinste. Der Ausdruck auf dem widerwärtigen, dreckverschmierten Gesicht war mehr als abstoßend. Pope war zwar immer noch dasselbe Klappergestell wie zwei Wochen zuvor in dem Tunnel, aber jetzt ging irgend etwas Bedrohliches von ihm aus. Karney war dankbar, daß er die Sonne im Rücken hatte.
»Und dich. Um dich zu sehn«, sagte Pope.
Karney gab lieber keine Antwort. Er entzündete ein Streichholz und steckte sich seine Zigarette an.
»Du hast etwas, das mir gehört«, sagte Pope. Kampf spielte den Unschuldigen. »Ich will meine Knoten wieder haben, Junge, bevor du wirklich ’n Schaden anrichtest.«
»Ich weiß nicht, wovon Sie reden«, entgegnete Karney. Sein Blick konzentrierte sich unwillkürlich auf Popes Gesicht, wurde in dessen Vertracktheiten hineingezogen. Die enge Gasse mit ihrem aufgehäuften Müll zuckte. Offenbar war eine Wolke über die Sonne geglitten, denn Karneys Gesichtskreis –
mit Ausnahme von Popes Gestalt – verdüsterte sich leicht.
»War dumm von dir, Junge, mir was stehlen zu wollen. Nicht daß ich keine leichte Beute war, das war ’n Fehler, und das passiert mir nicht noch mal. Fühl’ mich
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