Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das 4. Buch des Blutes - 4

Das 4. Buch des Blutes - 4

Titel: Das 4. Buch des Blutes - 4 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
Vom Netzwerk:
floh aus dem Haus, ließ dabei die Eingangstür halb offen.
    Als eine Stunde später Karney aufkreuzte, war sie immer noch halb offen. Obwohl er nach seinem Weggang von Brendan ernstlich vorgehabt hatte, sofort bei Red zu Hause vorbeizuschauen, hatte ihn der Mut verlassen. Statt dessen war er – ohne bewußten Plan – zur Brücke über die Archway Road gewandert. Dort war er lange Zeit gestanden, hatte dem Verkehr unten zugesehen und aus der kleinen Flasche Wodka getrunken, die er sich in der Holloway Road besorgt hatte. Der Kauf hatte sein letztes Bargeld geschluckt, aber auf nüchternen Magen wirkte der Alkohol schnell und machte ihm einen klaren Kopf. Sie würden alle sterben; zu dem Schluß war er gekommen. Womöglich war es seine Schuld, weil er die Schnur überhaupt erst gestohlen hatte; wahrscheinlicher war, daß Pope sie in jedem Fall für ihre Vergehen gegen seine Person bestraft hätte. Das Beste, was sie sich jetzt erhoffen konnten – er sich erhoffen konnte –, war ein Fünkchen Einsicht. Das reicht eigentlich stellte sein alkoholvernebeltes Gehirn fest: Beim Sterben nur ein wenig mehr über Geheimnisse zu wissen als bei der Geburt. Red würde ihn verstehen.
    Jetzt stand er auf der Schwelle und rief seinen Namen. Es kam kein Antwortschrei. Der Wodka in seinem Organismus machte ihn frech, und abermals nach Red rufend, betrat er das Haus. Die Diele lag in Dunkelheit, aber in einem der Zimmer am anderen Ende brannte Licht, und er steuerte darauf zu. Die Atmosphäre in dem Haus war schwül, wie das Innere eines Palmenhauses. Noch wärmer wurde es im Wohnzimmer, wo Red seine Körperhitze an die Luft abgab.
    Karney starrte lange genug auf ihn hinunter, um zu registrieren, daß er in der linken Hand die Kordel hielt und daß nur noch ein einziger Knoten übrig war. Vielleicht war Pope dagewesen und hatte aus irgendeinem Grund die Schnur zurückgelassen. Egal, wie es dazu gekommen war, jedenfalls bot die Tatsache, daß sie da war, eine Überlebenschance.
    Diesmal, so schwor er sich, während er sich dem Körper näherte, würde er die Kordel ein für allemal zerstören. Sie verbrennen und ihre Asche in alle Winde verstreuen. Er bückte sich, um sie an sich zu nehmen. Sie witterte seine Nähe und glitt, blutverschmiert, aus der Hand des Toten in die von Karney, wo sie sich, eine Spur hinterlassend, zwischen den Fingern durchschlängelte. Voller Überdruß betrachtete Karney den letzten Knoten. Der Prozeß, den in Gang zu setzen ihn so viel sorgfältige Mühe gekostet hatte, entwickelte jetzt seine Eigendynamik. Nun, da der zweite Knoten aufgebunden war, entwirrte sich der dritte praktisch von selbst. Offenbar brauchte er noch immer einen menschlichen Vermittler – weshalb sonst hüpfte er ihm so bereitwillig in die Hand? –, aber er war bereits nahe daran, sein eigenes Rätsel zu lösen. Er mußte schnellstens zerstört werden, bevor er sein Ziel erreichte.
    Jetzt erst wurde Karney gewahr, daß er nicht allein war. Ganz in der Nähe des Toten befand sich eine lebende Erscheinung.
    Er schaute auf von dem Kapriolen schlagenden Knoten, da ihn jemand anredete. Die Worte ergaben keinen Sinn. Es waren überhaupt kaum Worte, eher eine Abfolge verwundeter Laute.
    Karney erinnerte sich an den Atem des Wesens auf dem Fußpfad und an die zwiespältigen Gefühle, die es in ihm hervorgerufen hatte. Dieselbe Zwiespältigkeit bewegte ihn jetzt wieder: Mit der Angst stellte sich die Empfindung ein, daß die Stimme des Ungeheuers Verlust verkündete, ganz gleich in welcher Sprache. Ein vages Mitleid regte sich in ihm.
    »Zeig dich«, sagte er, ohne zu wissen, ob es ihn verstand oder nicht.
    Wenige zittrige Herzschläge verstrichen, und dann kam es aus der gegenüberliegenden Tür zum Vorschein. Das Licht im Wohnzimmer war gut und Karneys Sehkraft scharf, aber die Anatomie des Ungeheuers war ihm unbegreiflich. Seine abgebalgte, heftig pulsierende Gestalt hatte etwas Affenartiges, aber nur grob skizziert, als sei es zu früh geboren. Sein Mund öffnete sich, um einen weiteren Laut zu artikulieren; seine Augen, unter einer blutenden Schwarte von Stirn vergraben, waren unkenntlich. Allmählich watschelte es aus seinem Versteck durchs Zimmer auf Karney zu, forderte dabei mit jedem schlaff hingeplatschten Schritt dessen Feigheit heraus.
    Als es Reds Leiche erreicht hatte, blieb es stehen, hob eines seiner unfertigen Glieder und zeigte auf eine Stelle in seiner Halsbeuge. Karney sah das Messer; vermutlich gehörte es

Weitere Kostenlose Bücher